So, wie sie die jetzt erleben muss, hatte sich Kanzlerin Angela Merkel (CDU) die "schwäbische Hausfrau", das von ihr gern angeführte Vorbild, wohl nicht gedacht: Mit der Trillerpfeife im Mund lautstark vor dem Stuttgarter Bahnhof protestierend. Tag für Tag und Woche für Woche demonstrieren weiterhin Tausende von braven Bürgern gegen die Pläne der Bahn, der Stadt und der baden-württembergischen Landesregierung, ihr Prestigeprojekt eines unterirdischen Bahnhofs durchzusetzen, koste es was es wolle.
Und das ist durchaus wörtlich zu nehmen, denn nicht nur die ursprünglich projektierten Kosten sind längst aus dem Ruder gelaufen und drohen kaum kalkulierbar weiter zu steigen. Die schwarz-gelbe Landesregierung hat auch unmissverständlich gezeigt, dass sie ihr Vorhaben auch mit dem Einsatz von Pfefferspray, Wasserwerfern und Polizeiknüppeln gegen protestierende Schulkinder, Rentner und Hausfrauen durchzupeitschen gewillt ist.
Merkels großer Bahnhof
Die Bereitschaft zu einem Vermittlungsversuch unter der Moderation von Heiner Geißler musste Ministerpräsident Stefan Mappus erst abgerungen werden. Wobei der Ausgang völlig offen ist. Bahn, Landesregierung und Stadt beharren weiter unerschütterlich auf dem Bau. Und bekommen Schützenhilfe aus Berlin: Zur Verwunderung auch ihrer Anhänger stellte sich die Kanzlerin vorbehaltlos hinter das Bahnhofsprojekt und erklärte die Landtagswahl im März zur Abstimmung über Stuttgart 21 und gleich noch mit über die Zukunftsfähigkeit des Landes. Denn einen isolierten Volksentscheid darüber möchten CDU und FDP unbedingt vermeiden.
Das Gespenst der "Nichts-geht-mehr-Demokratie"
Der Zug sei abgefahren, heißt es. Alle parlamentarischen Verfahren seien abgeschlossen, Verträge unterzeichnet, es drohe Stillstand, Chaos und milliardenteure Regresszahlungen. Auf dem Delegiertentag der Seniorenunion warnte die Kanzlerin vor Fortschrittsangst und der Blockade von Neubauprojekten in ganz Deutschland: "Keine Kohlekraftwerke, möglichst keinen neuen Bahnhof, um jede Straße Theater, keine Hochspannungsleitungen mehr - so wird Deutschland seinen Wohlstand nicht sichern." FDP-Chef Guido Westerwelle sieht gar schon drohend eine "Nichts-gehrt-mehr-Demokratie" heraufdämmern.
Tricksen und täuschen
Anklagend verweisen schwarz-gelbe Verfechter von Stuttgart 21 auf die Schweiz. Dort könnten selbst Großprojekte wie der neue Gotthard-Tunnel geordnet über die Bühne gehen. Ein verwegener Hinweis. Denn gerade die Schweizer Beispiele zeigen überdeutlich die krassen Fehler und Versäumnisse in Deutschland. Zum Beispiel bei der Diskussion um Atommüll-Lager: Von Morsleben über Asse II bis Gorleben - es wurde und wird weiter getäuscht, getrickst, gelogen. Die versprochene Sicherheit für Tausende von Jahren? Schon jetzt angesichts absaufender Lager eine Chimäre. Die Kosten für den Steuerzahler? Klein gerechnet, verschleiert, vertuscht, verschwiegen. Transparenz und Beteiligung der Bürger? Eine bloße Behauptung.
Schweizer Lehrstücke
Auch die Schweiz ist auf der Suche nach einem Endlager für ihren Atommüll. Ein vorgesehener Standort wurde in einer Abstimmung von der Bevölkerung abgelehnt. Daraus hat man gelernt. "Wir brauchen ein transparentes und nachvollziehbares Verfahren, um das Problem der Atommüll-Entsorgung zu lösen", so das Schweizer Bundesamt für Energie. Sechs Standorte sind in der Prüfung. Zu den Anhörungen vor Ort sind auch Vertreter der deutschen Nachbargemeinden jenseits der Grenze eingeladen. Am Ende der Prüfungen - zwischen 2018 und 2020 - wird die ganze Schweiz in einer Volksabstimmung über den Endlagerstandort abstimmen.
Das Verfahren ist ziemlich genau das Gegenteil von dem, was die Bundesregierung in Gorleben praktiziert. Das fängt beim Verzicht auf die Untersuchung von Alternativstandorten an und ist beim Ausschluss von Bürgerbeteiligung und dem schon jetzt halblegal vorangetriebenen Ausbauschritten zum Endlager vor Abschluss der Untersuchungen noch lange nicht zu Ende.
In der Schweiz ist alles anders
Auch beim Vergleich der beiden Verkehrsprojekte Stuttgart 21 und Gotthard-Tunnel wird deutlich, warum die Schweizer den Durchbruch der ersten Röhre überschwänglich feierten, während in Stuttgart Woche für Woche die Zahl und die Wut der Protestierer wächst. Noch bevor in Schwaben der erste Bagger anrollte, waren die Kosten für den Bahnhof von ursprünglich 2,8 auf 4,1 Milliarden Euro gestiegen. Gutachter befürchten bis zur Fertigstellung sogar Kosten von bis zu zehn Milliarden Euro. Ein Projekt, das die Verantwortlichen offensichtlich schöngerechnet haben.
Dagegen konnte der Schweizer Verkehrsminister Moritz Leuenberger beim ersten Durchstich am Gotthard-Tunnel befriedigt feststellen: Wir schaffen den längsten Tunnel der Welt "zum Zeitpunkt, wie wir ihn planten, zu den Kosten, wie wir sie rechneten". Entscheidend war aber vor allem auch, dass die Schweizer Verantwortlichen alle Überlegungen und Planungen zum Tunnelbau öffentlich machten und zur Diskussion stellten. Schließlich stimmten vor dem Bau die Eidgenossen 1992 in einer Volksabstimmung mit deutlicher Mehrheit für den Eisenbahntunnel.
Ganz anders in Stuttgart. Schon 2007 hatte es hier ein Volksbegehren mit 67 000 Unterschriften gegen Stuttgart 21 gegeben. Das war gut das Doppelte des vorgeschriebenen Quorums. Oberbürgermeister Schuster (CDU) fand einen juristischen Dreh, einen Volksentscheid zu verweigern. Jetzt hat der Landtag mit den Stimmen von CDU und FDP erneut einen Volksentscheid abgelehnt. Man könnte von der Schweiz etwas lernen. Wenn man will. Aber man will nicht.
ist Mitarbeiter der vorwärts-Redaktion, Geschäftsführer a. D. des vorwärts-Verlags und ehemaliger Landesgeschäftsführer der SPD Hamburg.