Inland

Nachruf: Genscher wollte „liberal und frei“ leben

Hans-Dietrich Genscher galt als „ewiger Außenminister“. Für die SPD war er auch Regierungspartner. Und derjenige, der als „Königsmörder“ Helmut Schmidt stürzte. Dafür zahlte Genscher einen hohen Preis.
von Renate Faerber-Husemann · 4. April 2016
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Bei vielen Bürgern, vor allem denen der Bonner Republik, hat sich im Laufe der Jahrzehnte das Gefühl festgesetzt, Hans-Dietrich Genscher war immer da, wird immer da sein. Nun ist er mit 89 Jahren nach langer Krankheit in seinem Haus bei Bonn gestorben.

Genscher war dienstältester Außenminister Europas

Als er 1992 zur Überraschung von politischen Freunden und Gegnern als Außenminister zurücktrat, da ging wirklich eine Ära zu Ende: Fünf Jahre lang, von 1969 bis 1974, war er Bundesinnenminister gewesen und anschließend 18 Jahre lang Außenminister, der mit Abstand dienstälteste in Europa.

Genscher war der Workaholic in zwei Koalitionen, unter drei Bundeskanzlern: Willy Brandt, Helmut Schmidt und Helmut Kohl. Auch diejenigen, die ihm und seiner FDP den Wechsel von der sozialliberalen zur christlichliberalen Koalition 1982 mitten in der Legislaturperiode, also ohne Neuwahlen, nie verziehen haben, konnten sich eine deutsche Außenpolitik ohne ihn kaum vorstellen.

Das Stigma der „Umfallerpartei“

Am Tag des konstruktiven Misstrauensvotums im Herbst 1982 saß Genscher wie versteinert im Bundestag. Er blieb zwar Außenminister, aber der Preis für seine  Partei, der er mit dem „Bettenwechsel“ ohne Wählerauftrag das Überleben sichern wollte, war hoch:  Ansehensverlust durch das Stigma als „Königsmörder“, Neuauflage des Images als „Umfallerpartei“, über Jahrzehnte keine Alternative zur Union als Koalitionspartner, Verlust des damals noch starken, kreativen sozialliberalen Flügels, ein Exodus von Parteimitgliedern, die das Verhalten ihrer Führung unanständig fanden.

Doch mit dem Abstand vieler Jahre kann man auch sagen: Die Gemeinsamkeiten noch 13 Jahren alles in allem erfolgreichen Regierens waren wohl einfach verbraucht. Ein Liberaler, der damals zum Spitzenpersonal gehörte, sagte später: Es ging in der Koalition zu wie in einer Ehe kurz vor der Scheidung.

In der Rückschau bleibt Versöhnung

Auch wenn viele Sozialdemokraten der damaligen FDP-Führungsriege diesen Ausstieg nie verziehen haben, so bleibt  doch von Hans-Dietrich Genscher in der Rückschau ein versöhnlicheres Bild. Der 1952 aus Halle in den Westen geflohene junge Mann wurde zu einem der überzeugtesten – und überzeugendsten Europäer. Er gehörte zu jener Generation, die man noch als halbe Kinder im Krieg verheizt hatte und für die deshalb europäische Friedenspolitik über allem stand. „Liberal und frei“ wollte er leben, hat er über seine Flucht, die ihm schwer fiel, glaubwürdig immer wieder in Interviews gesagt.

In der ersten sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt wurde Genscher 1969 Bundesinnenminister. Es waren turbulente, schwierige Jahre, reformfreudig und offen für alles Neue. Aber das Land war auch polarisiert durch die Ostpolitik und erlebte  zudem eine junge Generation, die aufbegehrte, die Politik täglich herausforderte.

Der Schock von München 1972

Und dann 1972 der Schock während der Olympischen Spiele in München mit der Geiselnahme und Ermordung der israelischen Sportler. Für Genscher, so hat er später einmal gesagt, war es das dramatischste Ereignis seiner politischen Laufbahn: „Ich habe mich damals als Geisel zur Verfügung gestellt, weil ich es schrecklich fand, dass wieder jüdische Menschen auf deutschem Boden in ihrem Leben bedroht wurden und dann ja auch ermordet worden sind.“

Zwei Jahre später wurde Genscher Außenminister und gilt in der Rückschau als einer der wichtigen Architekten der Entspannungspolitik. Das Bild, das ihn im Herbst 1989 auf dem Balkon der deutschen Botschaft in Prag zeigt, ging  um die Welt. Hier hatte er den jubelnden DDR-Flüchtlingen, die sich dort hin gerettet hatten, verkündet, sie dürften in die Bundesrepublik ausreisen. Es war der Anfang vom Ende der DDR.

Genschers Vermächtnis: Europa

Natürlich hörte er auch im Ruhestand nicht auf, sich um Außenpolitik zu sorgen. Was er in einem Interview kurz vor seinem 80. Geburtstag gesagt hat, kann heute durchaus als sein Vermächtnis – leider ein allzu optimistisches -  gelten: „Uns muss interessieren, was im fernsten Winkel der Welt vor sich geht. In Wahr-heit gibt es keine entfernten Gebiete mehr. Jeder ist jedes anderen Nachbar. Wir in Europa haben das in einer bitteren Erfahrung im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verstehen müssen. Und deshalb sage ich, dass dieses Europa, wie wir es heute in der Europäischen Union haben, gleichzeitig Vorbild und Werkstatt sein kann für eine neue Weltordnung.“

Lesen Sie hier Reaktionen aus der SPD auf den Tod Hans-Dietrich Genschers.

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Autor*in
Renate Faerber-Husemann

(† 2023) war freie Journalistin in Bonn und Erhard-Eppler-Biografin.

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