Inland

Nach der marktradikalen Welle

von Erhard Eppler · 6. Februar 2011
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Bis zum Ersten Weltkrieg haben Liberale und Sozialdemokraten Fortschritt nicht nur gewollt. Sie haben daran geglaubt. Für sie war er ein Geschichtsgesetz. Was Wissenschaft an immer neuer Erkenntnis brachte, was Technik neu ermöglichte, musste notwendig das Leben leichter, Arbeit erträglicher, Kultur reicher, das Zusammenleben humaner machen.

Menschenfeindliche Diktaturen und zwei Weltkriege zeigten, dass solcher Fortschritt kein Gesetz war. Aber man konnte ihn wollen, dafür kämpfen. Für Sozialdemokraten gehörte dazu sozialer Fortschritt. Ziel war die Gesellschaft der Freien und Gleichen, nicht nur vor dem Gesetz. Was Wissenschaft und Technik ermöglichten, sollte allen zugute kommen.

Die Suche nach dem richtigen Fortschritt

Wirtschaftsliberale setzten Fortschritt mit wirtschaftlichem Wachstum gleich, auch als in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts die ökologischen Grenzen des Wachstums erkennbar wurden. In Sozialdemokratie und Gewerkschaften begann damals die Suche nach einem Fortschritt, der die Lebensqualität nicht gefährdet, sondern steigert. Höhepunkt dieses Diskurses war die Internationale Tagung der IG Metall zum Thema "Lebensqualität" in Oberhausen im April 1972, die Bundespräsident Gustav Heinemann eröffnete.

Die marktradikale Welle hat in den folgenden Jahrzehnten alle solchen Ansätze weggespült. Für Marktradikale gibt es nur einen Fortschritt: wirtschaftliches Wachs- tum. Ihre Verheißung war, dass dieses Wachstum sich um so rascher vollziehe, je freier, entfesselter man die Märkte walten lasse, je mehr Staatsaufgaben man ihnen überlasse, je mehr sich die Einkommen "spreizten", also ungleicher würden. Fortschritt kam durch mehr Ungleichheit im hilflosen Staat. Die schlimmen Folgen dieser Ideologie trafen zuerst den Süden der Erde. Wo die Kluft zwischen arm und reich die Gesellschaften spaltete, zerfielen die ohnehin schwachen Staaten, die Gewalt privatisierte, kommerzialisierte und brutalisierte sich.

Der Marktradikalismus hat sich widerlegt

Für die meisten Industrieländer wurden die Ergebnisse der marktradikalen Epoche erst spürbar durch die Bankenkrise. Als die Banken einander nur noch Geld liehen, wenn der Staat die Rückzahlung garantierte, hatte sich der Marktradikalismus gründlich widerlegt, ja lächerlich gemacht. Die rettenden Staaten sind aus der Krise mit höherem Prestige, aber auch mit weit höheren Schulden herausgekommen. Weil Banken nicht Pleite gehen durften und die Wirtschaft wieder angekurbelt werden musste, stehen jetzt Staaten vor der Pleite. Und denen verschreibt man dieselben Rezepte wie vorher: sparen, Aufgaben abbauen, privatisieren.

Über die Verheißungen des Marktradikalismus kann man nur noch lächeln. Als Sachzwang könnte er wieder kommen. Aber sogar Konservative denken um. Meinhard Miegel stellt die Gleichung Wachstum = Fortschritt in Frage. Seine Thesen:

1. Für die alten Industrieländer geht die Epoche raschen Wachstums zu Ende.
2. Was noch an Wachstum anfällt, wird die Lebensqualität nicht erhöhen.

Wachstum kann nicht mehr Ziel der Politik sein. "Nullwachstum" noch weniger. Es kommt darauf an, was wachsen soll, was nicht. Die SPD hat schon im Berliner Programm festgestellt: "Nicht jedes Wachstum ist Fortschritt" und ökologische und soziale Kriterien dafür genannt, was dem Fortschritt dient, was nicht. Dem wäre heute hinzuzufügen: "Wachsen soll, was die Gesellschaft zusammenhält, schrumpfen soll, was sie spaltet". Denn inzwischen ist die Kluft zwischen Arm und Reich gefährlich tief geworden.

Weniger Ungleichheit erhöht die Lebensqualität

2009 stellte in England ein Buch - anhand unzähliger Statistiken - die These auf, dass in Industrieländern die Lebensqualität in dem Maße abnimmt, wie die ökonomische Ungleichheit zunimmt. Je ungleicher die Gesellschaft, desto mehr Gewalt, mehr Gefängnisse, mehr psychische Krankheit, desto kürzer die Lebenserwartung, desto misstrauischer die Menschen. Hatten Marktradikale behauptet, Ungleichheit beschleunige das Wachstum, so bewiesen die Autoren, dass nicht Wachstum, sondern weniger Ungleichheit die Lebensqualität erhöht.

Wenn humaner Fortschritt ist, was zum besseren Leben führt, dann ist verminderte Ungleichheit, sozialer Ausgleich, soziale Gerechtigkeit ein Zugang zu diesem Fortschritt. In der solidarischen Gesellschaft lebt sich's für alle besser als in der Ellbogengesellschaft. Das kann und muss der Kern einer sozialdemokratischen Alternative zum Marktradikalismus sein.

Autor*in
Erhard Eppler

war von 1968 bis 1974 Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit.

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