Inland

Mini-Labor für Europa

von Susanne Dohrn · 18. August 2011
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An den Grenzen ist Welt schon lange nicht mehr zu Ende, schließlich können wir uns frei in Europa bewegen. Trotzdem hakt es oft bei der grenzüberschreitende Zusammenarbeit. Ein Beispiel: Deutsche und Franzosen planen einen grenzüberschreitenden Verkehrsweg. Die erste Sitzung findet statt. Die deutsche Seite ist gut vorbereitet. Sie schickt den zuständigen Vertreter des Landkreises, der alle Kompetenzen hat. Die Franzosen kommen zu fünft: ein Vertreter des Staates, einer der Region, einer des Departments, einer der betroffenen Stadtgemeinschaft und einen von der Bahngesellschaft SNCF. Der Deutsche hat alles vorbereitet: einen Businessplan, einen Vertragsentwurf, einen Plan für die Trassenführung. Die Franzosen sind gekommen, um erstmal herauszufinden, um was es geht. Mitgebracht hatten sie demzufolge erstmal nichts.

Interkulturelle Missverständnisse

Der Laie ahnt: Das kann nicht gut gehen. Denn auf den ersten Blick sieht es aus als ob die einen - die Franzosen - gar nicht kooperieren wollen. Die Franzosen hingegen fühlen sich überfahren. Zwei Staaten in Europa, das heißt nicht nur zwei Sprachen, das heißt auch zwei sehr unterschiedliche Kulturen und Systemrationalitäten. "Die Deutschen bereiten Entscheidungen administrativ vor, während die Franzosen jede Entscheidung mit der politischen Hierarchie abstimmen müssen", erklärt Joachim Beck, Leiter des Euro-Instituts in Kehl am Oberrhein. Das vor 16 Jahren gegründete Institut will dazu beitragen, grenzüberschreitende Kooperationen von Verwaltungen und Unternehmen zu verbessern.

Im Falle des grenzüberschreitenden Verkehrsweges hat die Moderation mehr als ein Jahr gedauert, und ohne die Hilfe des Euroinstituts wäre die Zusammenarbeit vermutlich nicht zustande kommen, obwohl beide Seiten sie wollten, so Beck. Zu unterschiedlich waren die Kulturen. "In Frankreich ist die Büroklammer noch strategisch", sagt Beck und meint damit die komplizierten Abstimmungsprozesse, die zwischen Bürgermeister, Departement und Staat notwendig sind.

Weinmarktverordnung testen

"Grenzgebiete sind Laboratorien für die europäische Integration", sagt Beck. Hier kann man sehen, wie unterschiedlich sich europäische Gesetzgebung auswirken kann. Denn alle europäischen Gesetze müssen sich seit einigen Jahren einer Folgenabschätzung unterziehen. Und wo ließen sich die Folgen von Gesetzen besser überprüfen, als im "Mini-Labor" der Grenzregionen. "Wenn Brüssel die Weinmarktverordnung neu regelt, dann ist die Weinbauregion Baden genauso betroffen wie die Weinbauregion Elsass", erklärt Beck. "Sie könnten dann gemeinsam artikulieren, wie sich die verschiedenen Optionen der Reform in den Regionen auswirken.

Das Oberrheingebiet gehört zu den dynamischsten Grenzregionen in Europa. Hier begann die Kooperation schon unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg und war damals stark von dem Aussöhnungsgedanken geprägt. Der Oberrhein ist zudem eine wohlhabende und dynamische Region. Hier gebe es 170 Einrichtungen der Aus- und Weiterbildung und der Wissenschaft, erklärt Beck. Die würden jedoch nur punktuell zusammenarbeiten. Becks Gedankenexperiment: Wäre die Grenze weg, könnten die Einrichtungen zusammenarbeiten. "Dann wäre die Forschungsdichte höher als in Silicon Valley." Damit verbunden ist auch ein völlig neuer Blick auf Grenzregionen. Bislang wurden sie eher als Problemgebiete wahrgenommen. Beck sieht das umgekehrt: "Grenzgebiete bieten - und das ist die ganz neue Sicht - auch unwahrscheinlich viele Potentiale."

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Susanne Dohrn

ist freie Autorin und ehemalige Chefredakteurin des vorwärts.

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