Inland

Macht die Tore auf, nicht zu!

von Uwe Knüpfer · 29. April 2011
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Schengen: der Name der luxemburgischen Kleinstadt hat für Millionen von Menschen die Europäische Idee fühlbar gemacht. Dank "Schengen" sind Schlagbäume auf den Müll gewandert, wurde Europa im Wortsinn erfahrbar.

Weit mehr noch als der gemeinsame Binnenmarkt und auch der Euro hat "Schengen" die Vorstellung der Europäer von Europa verändert. Zum Besseren. Das gilt für Ältere, die sich noch allzu gut an peinigende Grenzkontrollen erinnern; nicht nur an der innerdeutschen Grenze, sondern auch zwischen Deutschland und der Tschechoslowakei, den Niederlanden oder Österreich. Das gilt aber auch für Jüngere, für die Generation Erasmus, der es zum Glück normal erscheint, mal eben so von Köln nach Barcelona reisen zu können. Vor "Schengen" wären sie auf dem Landweg dorthin vier bis acht Zöllnern begegnet.

Europa wird allzuoft und manchmal leider zu Recht mit Bürokratie assoziiert. "Schengen" ist das Gegenteil von Bürokratie. Und dieses Gegenteil soll jetzt also "nachgebessert" werden. Übersetzt aus der Sprache des Unmenschen kann das nur bedeuten: "Schengen" wird demontiert. Kontrollen, Zöllner, Wartezeiten und Schlagbäume kehren in die innereuropäische Lebenswirklichkeit zurück.

Und warum? Um die 400 Millionen EU-Europäer vor dem "Ansturm" einiger Zehntausend Nordafrikaner zu "schützen". Schon das abstruse Zahlenverhältnis macht klar: das ist Unsinn.

Es ist aber noch schlimmer als Unsinn: es ist schändlich. Europa leuchtet weithin als Vorbild an Sicherheit, Offenheit, Gerechtigkeit und Aufstiegsversprechen. Wir dürfen uns nicht wundern, sondern sollten uns freuen, dass Menschen in Afrika und anderswo in Europa leben und arbeiten, ihr kleines Glück machen und Steuern zahlen wollen. Es sind nicht die Faulsten und Bequemsten, die ihre Heimat und Familien hinter sich lassen und die Gefahren und Entbehrungen auf sich nehmen, von denen wir in der Behaglichkeit Berlins oder Braunschweigs kaum eine Vorstellung haben - um Europäer zu werden.

Stattdessen werden sie, kaum haben sie den gelobten Kontinent erreicht, in Lagern kaserniert, verächtlich katalogisiert, zur Untätigkeit verdammt und oft genug wieder dorthin abgeschoben, woher sie aufgebrochen sind.

Das ist schändlich - und dumm. Wir sollten sie mit offenen, aber festen Armen empfangen. Jeder sollte in Europa willkommen sein, der bereit ist, hier zu arbeiten, Ideen zu verwirklichen, Sprachen zu lernen, sich zu "integrieren", unsere Gesellschaften bunter, jünger und reicher zu machen.

Was wäre Deutschland ohne "Zuwanderer", ohne "Migranten"? Ohne das römische Erbe im Rheintal, ohne die Spuren der Hugenotten in Brandenburg, ohne die Kowalskis und Schimanskis im Kohlenpott, ohne Pizzerien, Gelaterien und Döner? Auf jeden Fall langweiliger, bornierter, viel unattraktiver als die Gegenwart.

Und das gern beschworene bildliche Boot? Es ist mitnichten voll. Im Gegenteil. Kein Tag vergeht, an dem nicht irgendein Forscher oder Politiker den demografischen Wandel beschwört, auf aussterbende Dörfer und Städte zeigt. Auf Schulen, die mangels Nachwuchs geschlossen werden müssen, auf Unternehmen, die händeringend Fachkräfte suchen.

So bejammern wir im Inneren den Bevölkerungsschwund, und an den Grenzen verjagen wir Menschen, die gerne bei uns leben wollen. Das ist verrückt.

Und nur zu erklären mit dumpfer Angst der Gewählten vor dumpfen Gefühlsausbrüchen ihrer Wähler.

Aus Angst vor dem Erstarken fremdenfeindlicher Populisten versteigen sich demokratisch gewählte Politiker zu einer fremdenfeindlichen, populistischen Politik. Das ist Feigheit vor dem Feind. Das ist die Herrschaft des Kleingeists, pompös kaschiert, wenn Limousinen zu "Gipfeltreffen" im intellektuellen Flachland rollen.

Ist "Schengen" erst geschleift, steht auch bald anderes auf dem Spiel, das uns an Europa lieb und teuer ist. Denn hinter dem Unwort von der Nachbesserung lauern die weggesperrten alten Geister, die Europa allzulange dominiert und oft genug verwüstet haben: Nationalismus, Xenophobie und Rassismus.

In trauriger Ermangelung mutiger Politiker kann nur der europäische, der vernünftige, der aufgeklärte, weltoffene Wähler diese Geister von uns fernhalten. Und das wird er. Denn der aufgeklärte, der europäische Wähler ist, anders, als die Berlusconis hoffen und die Sarkozis und Merkels offenbar fürchten, in der Mehrheit. Auch dank der Erfahrung von 26 Jahren "Schengen".

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Autor*in
Uwe Knüpfer

war bis 2012 Chefredakteur des vorwärts.

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