Lassalle, Piketty und die deutsche Wirtschaftspolitik
Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel hat den französischen Ökonomen Thomas Piketty bei dessen Berlin-Besuch Anfang November mit Ferdinand Lassalle verglichen, einem der Begründer der deutschen Sozialdemokratie. Lassalle meinte im Wirken des Kapitalismus seinerzeit ein „ehernes Lohngesetz“ erkannt zu haben, wonach die Lohneinkommen langfristig nicht über das Existenzminimum hinaus steigen. Piketty hingegen habe, so Gabriel, ein „ehernes Renditegesetz“ aufgestellt, wonach die Rendite auf Vermögen typischerweise die Wachstumsrate der gesamtwirtschaftlichen Einkommen übersteige (r > g). In Gabriels Piketty-Interpretation folgt daraus eine nahezu unentrinnbare Konzentration der Vermögen in den Händen weniger als Naturgesetz des Kapitalismus.
Thomas Piketty auf den Spuren von Ferdinand Lassalle, das klingt frankophil und erfreut das sozialdemokratische Ohr. Doch dann kommt der große Dämpfer: Lassalles ehernes Lohngesetz habe sich damals als falsch erwiesen! Und auch Pikettys (genauer: Gabriels) „ehernem Renditegesetz“ werde fehlende empirische Evidenz vorgehalten, denn ausgerechnet im 20. Jahrhundert sei r nicht größer als g gewesen.
Liegt Piketty mit r > g genauso daneben wie Lassalle?
Leider folgen Diskussionen um Pikettys Buch gerade in Deutschland häufig einem solchen Muster. Es erscheint daher notwendig, Pikettys Aussagen genauer zu beleuchten:
Zunächst einmal ist r > g keineswegs eine gewagte Einzelmeinung von Thomas Piketty und hat nichts zu tun mit vermeintlich ehernen Gesetzen des Marxismus. Vielmehr ist r > g eine Standardannahme auch in neoklassischen Mainstream-Modellen. Pikettys Provokation besteht gerade darin, dass er eine Mainstream-Annahme aufgreift und dann zeigt, dass unter Hinzunahme weiterer Annahmen ein langfristiger Anstieg der Ungleichheit folgt. Allein aus einer durchschnittlichen Vermögensrendite, die oberhalb der durchschnittlichen Wachstumsrate der Einkommen liegt, folgt nämlich keineswegs automatisch eine immer weiter steigende Ungleichheit von Einkommen und Vermögen. Es folgt hieraus auch nicht, dass die Gewinnquote auf 100 Prozent des BIP steigen muss.
Hierzu ist es erstens notwendig, dass die hohen Einkommensgruppen einen hinreichend größeren Anteil ihrer Einkommen sparen als untere Einkommensgruppen. Zweitens weist Piketty ausführlich darauf hin, dass die Vermögensrenditen vor und nach Steuern sich vor allem im 20. Jahrhundert stark unterschieden haben. Und drittens zeigt Piketty, dass reiche Sparer in der Regel höhere Renditen erzielen können als weniger reiche, weil sie ihr Portfolio besser diversifizieren und größere Risiken eingehen können.
Die Ungleichheit in Deutschland steigt
In allen drei Punkten deutet die Entwicklung der jüngeren Vergangenheit in Deutschland und anderswo auf einen weiteren Anstieg der Ungleichheit hin (der aber nicht gleich ins Unendliche gehen muss): Die reichen Haushalte in Deutschland haben ihre Ersparnisbildung erhöht, und zwar insbesondere im Zuge steigender Unternehmensersparnis. Die mittleren und unteren Einkommensgruppen hingegen sind angesichts schleppender Einkommensentwicklung kaum zu vermehrter Ersparnisbildung imstande. Zugleich sind hohe Einkommen und Vermögen steuerlich entlastet worden. Und die Deregulierung des Finanzsystems hat es vermögenden Anlegern erlaubt, mit komplexen Finanzprodukten hohe Renditen zu erzielen.
Statt über eherne Gesetze zu philosophieren, sollte sich die deutsche Wirtschaftspolitik zunächst einmal dringend darum bemühen, mehr Informationen über die tatsächliche Einkommens- und Vermögensverteilung zu gewinnen.
Abgeltungssteuer abschaffen, Kapital- wie Arbeitseinkommen besteuern
Das Neue an Pikettys Forschung besteht ja darin, dass sie nicht wie frühere Forschung auf freiwillige Haushaltsbefragungen vertraut, sondern Daten aus der Einkommen- und Vermögensteuerstatistik auswertet. Diese Methode stößt aber in Deutschland dadurch auf große Probleme (auch wenn es erste innovative Ansätze zu ihrer Überwindung gibt), dass es keine Vermögensteuer mehr gibt und Steuern auf Kapitaleinkommen über die Abgeltungssteuer anonym abgeführt werden. Zwar spricht alles dafür, dass die Ungleichheit am oberen Ende gestiegen ist, die Datenlage ist für Deutschland aber schlechter als in anderen Ländern.
Deswegen sollten die Abgeltungssteuer abgeschafft und Kapital- und Arbeitseinkommen gleich besteuert werden. Und die Forderung nach einer Vermögensteuer bzw. einer stärkeren Besteuerung von Erbschaften kann nicht immer wieder mit dem Hinweis auf verfassungsrechtliche Probleme und mit der unerwünschten Belastung von Betriebsvermögen im deutschen Mittelstand abgewehrt werden. Denn die volkswirtschaftliche Funktion des Unternehmenssektors einschließlich des Mittelstandes besteht nicht darin, Finanzvermögen anzuhäufen und über Generationen hinweg steuerlich privilegiert zu vererben. Einiges spricht dafür, dass hierdurch die Binnennachfrage geschwächt und die Vermögensungleichheit verschärft werden.
Wenn diese konkreten verteilungspolitischen und makroökonomischen Themen durch die Piketty-Debatte ins Zentrum der deutschen Wirtschaftspolitik rücken, wäre viel gewonnen.
ist seit 2013 Professor für Sozialökonomie an der Universität Duisburg-Essen und Vorstandsmitglied der Forschungsstelle für wissenschaftsbasierte gesellschaftliche Weiterentwicklung (FWGW).