Inland

Kurswechsel angesagt

von Dorle Gelbhaar · 25. Mai 2010
placeholder

Die aktuelle Finanzkrise wird als Kulturkrise des westlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells beleuchtet. Dabei moralisieren die Autoren von "Kurswechsel für Deutschland" nicht am Beispiel einzelnen Fehlverhaltens, sondern analysieren sachlich, was in die Krise geführt hat und wo dauerhafte Auswege zu finden sein könnten.

Dabei sind die Meinungen durchaus nicht in allen Punkten konform. Einig sind sich die Autoren allerdings darin, dass Marktradikalismus die Probleme noch verschärft. "Marktradikalität, Deregulierung und Entstaatlichung … sind nur andere Worte für eine unverantwortliche Laissez-faire-Politik und eine Verabsolutierung des ungeregelten Wettbewerbs", schreibt Gesine Schwan, die ehemalige Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder.

Rolle der Gewerkschaften

Das unausgewogene Verhältnis von Produktion und Konsumtion, international und national, wird in verschiedenen Beiträgen des Buches als eine der wesentlichen Ursachen der Krise identifiziert. Genau wie die Loslösung der Finanzwirtschaft von der realen Wertschöpfung.

Der Herausgeber, Berthold Huber, kennt die Arbeitswelt als gelernter Werkzeugmacher, Betriebsrats- und Gesamtbetriebsrat. Als erster Vorsitzender der IG Metall und als Präsident des Internationalen Metallgewerkschaftsbundes ist er nun an vorderer Position mit den Auswirkungen der Finanzkrise befasst. Aus Sicht der Gewerkschaft stößt er mit "Kurswechsel für Deutschland" eine längst überfällige Diskussion an: Mindestlöhne, eine bessere Bildungspolitik, größere soziale Durchlässigkeit, mehr Mitbestimmung und damit mehr Demokratie. So lauten die Forderungen.

Manchem Mitautor geht der gewerkschaftliche Standpunkt allerdings nicht weit genug. Stephan Lessenich etwa, Professor für Soziologie mit Schwerpunkt Vergleichende Gesellschafts- und Kulturanalyse an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat von Attac, kritisiert, dass die Denkansätze zu sehr im Rahmen des Bestehenden verbleiben: Ohne eine grundsätzliche Veränderung der Gesellschaft seien Krisen wie die aktuelle nicht zu verhindern.

Postdemokratie

Gemeinsamer Tenor aller Autoren von "Kurswechsel für Deutschland" ist die Forderung nach mehr Demokratie und nach mehr Autonomie des Staates gegenüber den Märkten. Colin Crouch, seit 2005 Professor für "Governance und Public Management" an der University of Warwick, spricht gar von "Postdemokratie": Die Gesellschaft sei von den Geschäften der Führungsschichten des Finanzsektors abhängig und übernehme deren Risiken. So führe das "deregulierte und global agierende Finanzkapital zu einer Umverteilung in Richtung der ohnehin schon privilegierten Klasse der Vermögensbesitzer".

Lösungsansätze werden im Buch anhand von verschiedenen nationalen Modellen untersucht. So gibt es etwa in Schweden mehr qualifizierte Stellen im sozialen Sektor, die Durchlässigkeit der Gesellschaft ist weitaus höher. Außerdem werden Entwicklungen und Defizite im Bildungssektor analysiert. Auch in diesem Bereich ist die Forderung nach mehr Durchlässigkeit zentral. Das aktuelle Wertesystem als eine Krisenursache müsse kritisch unter die Lupe genommen werden, betont Herausgeber Berthold Huber.

"Kurswechsel für Deutschland" ist ein wichtiges Buch, das zur Kenntnis nehmen sollte, wer sich um sein Land sorgt.

Berthold Huber (Hg.): "Kurswechsel für Deutschland. Die Lehren aus der Krise", Campus Verlag Frankfurt am Main/ New York 2010, 256 Seiten, 24,90 Euro, ISBN 978-3-593-39104-5


Autor*in
Dorle Gelbhaar

ist freie Autorin, Vorstandsmitglied des Verbands deutscher Schriftsteller im ver.di-Landesverband Berlin sowie stellvertretende Vorsitzende des Kulturwerks Berliner Schriftsteller e. V.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare