Inland

Künstliche Intelligenz: „Deutschland hängt erschreckend hinterher“

Seit dem Start von ChatGPT vor drei Jahren wächst der Einfluss von Künstlicher Intelligenz rasant. Warum Angst im Umgang mit KI ein schlechter Ratgeber ist und welche Weichen Deutschland jetzt stellen muss, sagt KI-Expertin Nora Heer im Interview.

von Kai Doering · 9. Dezember 2025
Porträt der KI-Expertin Nora Heer

Gründerin Nora Heer: Inzwischen sind etwa 60 Prozent meiner Arbeitsprozesse mit KI verbunden.

Wann haben Sie das letzte Mal bewusst Künstliche Intelligenz genutzt?

Vor einer Stunde.

Wofür?

Um einen Text zu schreiben. Ich starte immer mit KI in den Tag und lasse mich von KI coachen zu allen möglichen Lebensfragen.

Zum Beispiel?

Zum Beispiel, welche strategischen Themen ich vorantreiben sollte. Ich habe dafür Spezialagenten eingerichtet, mit denen ich Themen diskutiere und so verbessere. Die KI und ich schreiben dabei im Dialog.

KI ist also ein fester Bestandteil Ihres Alltags wie inzwischen bei einem guten Viertel der Deutschen?

Ja. Inzwischen sind etwa 60 Prozent meiner Arbeitsprozesse mit KI verbunden. Ich gehe dabei in regelrechte Expertendiskussionen und habe einen KI-basierten Strategieberater, einen Steuerberater und einen Marketingexperten. Aber auch bei ganz alltäglichen Problemen wie der schnellsten Bahn-Verbindung frage ich die KI. Anderseits schaffe ich mir aber auch bewusst KI-freie Zonen. Das finde ich sehr wichtig.

Nora
Heer

Deutschland muss wirklich aufpassen, nicht abgehängt zu werden.

Am 30. November 2022 wurde der Chatbot ChatGPT veröffentlicht. Wie sehr hat das die Gesellschaft verändert?

An ChatGPT kann man sehr gut sehen, wie schnell ein einflussreiches Produkt inzwischen in der Gesellschaft ankommt. Beim Auto hat es 62 Jahre gedauert, bis es 50 Millionen Menschen genutzt haben. Beim Fernseher waren es noch 22 Jahre und bei Facebook brauchte es nur noch vier Jahre. ChatGPT hingegen schaffte dies in nur 29 Tagen – und ist damit die schnellste Erschließung eines Massenmarktes in der Geschichte. Seit der Einführung vor drei Jahren hat es viele unserer tagtäglichen Prozesse durchdrungen und ist nicht mehr wegzudenken.

Trotzdem werden in der öffentlichen Debatte besonders die Risiken von KI betont. Woran liegt das?

Ich habe das Gefühl, dass das vor allem eine deutsche Diskussion ist. Deutschland hängt in Sachen KI-Adaption im Vergleich zu anderen Ländern erschreckend hinterher. Das kann durchaus damit zusammenhängen, dass der Diskurs hier vor allem die Risiken betont. Verunsicherung führt aber zu einer Überregulierung und einer gewissen Digitalisierungsmüdigkeit. Das ist sehr gefährlich, denn es bedeutet, dass Deutschland bei der Einbindung von KI in die Prozesse in Unternehmen zunehmend abgehängt wird. Deutschland steht im Stau, während alle anderen Vollgas geben. Wir müssen endlich ins Handeln kommen. Deutschland muss wirklich aufpassen, nicht abgehängt zu werden.

Im Koalitionsvertrag haben CDU/CSU und SPD das Ziel formuliert, Deutschland solle „KI-Nation“ werden. Was muss dafür passieren?

Eine ganz wesentliche Voraussetzung ist, dass der Staat der erste Konsument wird. Die öffentliche Verwaltung setzt zurzeit weniger als drei Prozent KI-Lösungen ein. Nur fünf Prozent der europäischen KI-Standards zählen den Staat zu ihren Kunden. In den USA sind es 40 Prozent. Ein Grund ist, dass Deutschland unfassbar lange braucht, bis eine Auftragsvergabe abgeschlossen ist. Durchschnittlich sind es 35 bis 52 Wochen. Estland führt digitale Services in drei bis sechs Monaten ein. Singapur startet KI-Projekte in unter 100 Tagen. Das sind Lichtjahre Unterschied. Wir sollten übrigens deutsche und europäische KI-Produkte in den Vordergrund zu stellen. Wenn wir die nutzen, entwickeln wir eine unheimliche Marktkraft, dies stärkt unsere Wirtschaft und damit auch den Standort Deutschland.

Nora
Heer

Eine KI allein ist in der Regel kein Fachkraftersatz. Und das wird sich vermutlich auch nicht ändern.

Nora Heer

ist Gründerin und Geschäftsführerin des Institute of Humain Organisation – einer KI-Transformationsberatung, die mittelständische Unternehmen in Deutschland dabei unterstützt, den Wandel mit Künstlicher Intelligenz aktiv zu gestalten. Seit September 2025 ist sie als Vizepräsidentin des Wirtschaftsforums der SPD e.V.

KI-Expertin Nora Heer in einer Gesprächssituation

Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hat ermittelt, dass in den kommenden 15 Jahren rund 800.000 Arbeitsplätze wegen KI wegfallen, gleichzeitig aber im selben Umfang neue Stellen durch KI entstehen werden. Worauf kommt es an, damit dieser Wandel gelingt?

Ich sage gern: KI wird dir niemals den Job wegnehmen, jemand, der KI besser einsetzen kann als du, aber schon. Deshalb ist es zentral, die KI-Kompetenz von Mitarbeitern in Unternehmen zu stärken. Sie müssen in KI denken und ihre Arbeitsprozesse systematisch an die neuen Gegebenheiten anpassen. Entscheidend ist, dass Unternehmen wie Beschäftigte KI nicht als Werkzeug verstehen, sondern als einen Gesamtprozess. Das ist eine völlig neue Herangehensweise, die eigentlich nur mit der Industriellen Revolution vergleichbar ist, die ebenfalls grundlegend verändert hat, wie Menschen arbeiten und Dinge herstellen. Für kleine Unternehmen ist der Wechsel zurzeit deutlich leichter zu bewerkstelligen als für große. Er kann aber so oder so nur gelingen, wenn ihn die Unternehmensführung wirklich will. Das ist noch nicht immer der Fall.

Was bedeutet das für die Mitarbeiter*innen?

Denen müssen häufig erstmal Ängste genommen werden. Viele haben schlechte Erfahrungen mit jahrelangen Digitalisierungsprojekten gemacht, die meist zu mehr Arbeit statt zu einer Entlastung geführt haben. Bei KI kommt die Sorge dazu, sich für eine Technologie zu engagieren, die sie im schlimmsten Fall den Job kostet. Ganz entscheidend ist deshalb bei der Etablierung von KI, vom Menschen auszugehen. Manche Organisationen geben sogar eine gewisse Job-Garantie, um Ängste zu nehmen und Offenheit zu schaffen. So können sie dann systematisch partizipativ mit den Menschen gemeinsam die Prozesse umgestalten. Denn eines ist klar: KI ist da und wird nicht wieder weggehen.

Manche Branchen, in denen der Fachkräftemangel schon jetzt groß ist, setzen auf KI als Lösung. Ist das realistisch?

Das muss man sehr differenziert betrachten. KI ist sicher kein Allheilmittel. Der Fachkräftemangel ist ja im Moment in den Bereichen besonders groß, wo es um sehr menschenbezogene Dienstleistungen geht, bei Fahren, bei Servicekräften. Das kann keine KI übernehmen. Und auch wenn wir über Fachkräfte mit einer hohen Spezialisierung sprechen, sehe ich eher, dass sie mithilfe von KI schneller werden können in dem, was sie tun. Aber eine KI allein ist in der Regel kein Fachkraftersatz. Und das wird sich vermutlich auch nicht ändern.

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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