Zunächst die Entdeckung des deutschen Humors. Ein Tintenfisch sagt Spielergebnisse in Südafrika voraus. Sein Name "Paul" geht durch alle Kneipen, in Frankreich durch alle Bistros, wo Spott
und Witz zuhause sind. Paul wird während der WM der größte Exportschlager der ansonsten im Ausland als etwas humorlos geltenden Deutschen. Selbst Spanien, der WM-Sieger, bezeugte Respekt. Der
neue Weltmeister überreichte dem Orakel in seinem Aquarium in Oberhausen eine Kopie des goldenen Siegespokals.
Multikulturell auf beiden Seiten
Und dann als "Sieger" der Weltschau des Runden Leders die jungen Deutschen. Immer wieder strahlte das internationale Fernsehen Freudentänze, Feste und das beliebte Public Viewing gerade in
Berlin aus. Ein lockeres, aufgeräumtes und heiteres Deutschland wurde gezeigt. In Frankreich sehnten sich die Fans nach einer ebenfalls als Fan-Meile umfunktionierten Avenue, nach den
Champs-Elysées.
"Können sich Ländern so ändern?" fragt Herald Tribune. "Die "Mannschaft" sei in ihrer niemals nachlassenden Dynamik ausgezeichnet gewesen. Ein Hinweis auf Nachbar Frankreich: Als sich die
Franzosen 1998 den Weltmeistertitel holten, blickte die Welt auf eine multikulturelle Equipe Tricolore. Die deutsche Elf - kein Deut weniger kosmopolitisch, findet jetzt ein Großteil der Medien.
Drittens: Das Klischee vom "disziplinierten etwas langweiligen" Deutschen scheint ausgedient zu haben. Das Land, gern als graue Wetterzone dargestellt, wo man keinen Urlaub macht, nun im
hochsommerlichen Taumel der Fussballsiege über England, Argentinien und Uruguay. Die französische Abendzeitung Le Monde: "Dieses Deutschland platzt vor Freude, Stolz und Selbstbewußtsein!" Die
Sonntagszeitung "Journal de Dimanche" überschreibt einen Bericht mit - auf deutsch - "Wunderbar!"
Schnuppern in der deutschen Fan-Welt
Jetzt aber, so einige Medien, wollen tausende 18- bis 25-jährigen Franzosen dieses "weltoffene Land" kennenlernen. Seine Biergärten, seine Kneipen, Feste und Massenpartys zum Beispiel in
Berlin. Plötzlich ist das Interesse am Nachbarn erwacht. Die eigene Equipe ist im nationalen Gedächtnis schon vergessen. Die "Mannschaft" wirkte wie ein Ersatz. Aber wird das Interesse anhalten?
Zumindest die Absicht, einmal in die deutsche Fan-Welt zu schnuppern, meinen Deutschlandkenner.
Ungewöhnliches Interesse auch der Medien. Wochenblätter wie "Le Point" und "Marianne" beschäftigen sich in Kommentaren und Reportagen mit Deutschland. Vor allem werden die gute
Wirtschaftslage und eine fast reibungslos funktionierende Demokratie herausgestellt. Skepsis herrscht dagegen über die politische Zukunft der Bundeskanzlerin, die vielen "angeschlagen" vorkommt.
Wird das Ansehen der deutschen Regierungschefin so schnell fallen wie das von Nicolas Sarkozy?
Doch viele Franzosen haben offenbar mehr Vertrauen in Merkel als in Sarkozy. Jetzt, nach einigen Wochen Abstand von der WM, wird bei näherem Hinsehen kühler berichtet. Doch der Grundtenor
bleibt: Gewiß leide auch der Nachbar unter der Krise, aber den Deutschen gehe es deutlich besser als den Franzosen. Nun schlagen einige an der Seine vor, das Orakel möge nach Paris kommen. Der
deutsche Paul soll den Franzosen sagen, ob es unter Sarkozy künftig auf- oder abwärts gehe....
ist Auslandskorrespondent in Frankreich für verschiedene Tageszeitungen und Autor mehrerer politischer Bücher, u. a. „Willy Brandt – ein politisches Porträt“ (1969).