Inland

"Können sich Länder so verändern?"

von Lutz Hermann · 17. Juli 2010
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Zunächst die Entdeckung des deutschen Humors. Ein Tintenfisch sagt Spielergebnisse in Südafrika voraus. Sein Name "Paul" geht durch alle Kneipen, in Frankreich durch alle Bistros, wo Spott und Witz zuhause sind. Paul wird während der WM der größte Exportschlager der ansonsten im Ausland als etwas humorlos geltenden Deutschen. Selbst Spanien, der WM-Sieger, bezeugte Respekt. Der neue Weltmeister überreichte dem Orakel in seinem Aquarium in Oberhausen eine Kopie des goldenen Siegespokals.

Multikulturell auf beiden Seiten


Und dann als "Sieger" der Weltschau des Runden Leders die jungen Deutschen. Immer wieder strahlte das internationale Fernsehen Freudentänze, Feste und das beliebte Public Viewing gerade in Berlin aus. Ein lockeres, aufgeräumtes und heiteres Deutschland wurde gezeigt. In Frankreich sehnten sich die Fans nach einer ebenfalls als Fan-Meile umfunktionierten Avenue, nach den Champs-Elysées.

"Können sich Ländern so ändern?" fragt Herald Tribune. "Die "Mannschaft" sei in ihrer niemals nachlassenden Dynamik ausgezeichnet gewesen. Ein Hinweis auf Nachbar Frankreich: Als sich die Franzosen 1998 den Weltmeistertitel holten, blickte die Welt auf eine multikulturelle Equipe Tricolore. Die deutsche Elf - kein Deut weniger kosmopolitisch, findet jetzt ein Großteil der Medien.

Drittens: Das Klischee vom "disziplinierten etwas langweiligen" Deutschen scheint ausgedient zu haben. Das Land, gern als graue Wetterzone dargestellt, wo man keinen Urlaub macht, nun im hochsommerlichen Taumel der Fussballsiege über England, Argentinien und Uruguay. Die französische Abendzeitung Le Monde: "Dieses Deutschland platzt vor Freude, Stolz und Selbstbewußtsein!" Die Sonntagszeitung "Journal de Dimanche" überschreibt einen Bericht mit - auf deutsch - "Wunderbar!"

Schnuppern in der deutschen Fan-Welt

Jetzt aber, so einige Medien, wollen tausende 18- bis 25-jährigen Franzosen dieses "weltoffene Land" kennenlernen. Seine Biergärten, seine Kneipen, Feste und Massenpartys zum Beispiel in Berlin. Plötzlich ist das Interesse am Nachbarn erwacht. Die eigene Equipe ist im nationalen Gedächtnis schon vergessen. Die "Mannschaft" wirkte wie ein Ersatz. Aber wird das Interesse anhalten? Zumindest die Absicht, einmal in die deutsche Fan-Welt zu schnuppern, meinen Deutschlandkenner.

Ungewöhnliches Interesse auch der Medien. Wochenblätter wie "Le Point" und "Marianne" beschäftigen sich in Kommentaren und Reportagen mit Deutschland. Vor allem werden die gute Wirtschaftslage und eine fast reibungslos funktionierende Demokratie herausgestellt. Skepsis herrscht dagegen über die politische Zukunft der Bundeskanzlerin, die vielen "angeschlagen" vorkommt. Wird das Ansehen der deutschen Regierungschefin so schnell fallen wie das von Nicolas Sarkozy?

Doch viele Franzosen haben offenbar mehr Vertrauen in Merkel als in Sarkozy. Jetzt, nach einigen Wochen Abstand von der WM, wird bei näherem Hinsehen kühler berichtet. Doch der Grundtenor bleibt: Gewiß leide auch der Nachbar unter der Krise, aber den Deutschen gehe es deutlich besser als den Franzosen. Nun schlagen einige an der Seine vor, das Orakel möge nach Paris kommen. Der deutsche Paul soll den Franzosen sagen, ob es unter Sarkozy künftig auf- oder abwärts gehe....

Autor*in
Lutz Hermann

ist Auslandskorrespondent in Frankreich für verschiedene Tageszeitungen und Autor mehrerer politischer Bücher, u. a. „Willy Brandt – ein politisches Porträt“ (1969).

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