Kapitalismus und Ungleichheit: Was die SPD von Marx lernen kann
Wie kann es sein, dass in einer reichen Gesellschaft, die Armut stetig wächst? Laut fünftem Armuts- und Reichtumsbericht besitzen in Deutschland die reichsten 10 Prozent der Haushalte mehr als die Hälfte des gesamten Netto-Vermögens. Die untere Hälfte nur ein Prozent. Die Ungleichheit bei den Vermögen verfestigt sich zunehmend.
Kapitalismus ruft Armut hervor
Um der Ursache dieses Phänomens nachzugehen, lohnt sich der Blick in das Werk eines Autoren, dessen 200.Geburtstag im kommenden Jahr von der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) mit der Wiedereröffnung seines Geburtshauses in Trier gefeiert wird: Es geht um den Philosophen und Ökonomen Karl Marx.
In seiner Analyse der kapitalistischen Produktionsweise habe Marx unter anderem festgestellt, dass „der Wohlstand der Vermögenden gekoppelt ist an ein wachsendes Prekariat“, erklärt Autor und Universitätsprofessor Oliver Nachtwey. Gemeinsam mit der SPD-Bundestagsabgeordneten Yasmin Fahimi und dem Direktor des Instituts für deutsche Wirtschaft Köln, Michael Hüther, diskutierte er in den Berliner Räumen der FES zum Thema „Kapitalismus und Ungleichheit – Was hat Marx uns noch zu sagen?“
Von der Freiheit des Individuums
Vieles, antworten sowohl Nachtwey als auch für Fahimi, vor allem wenn es darum geht, die Ursache von Ungleichheit in der Gesellschaft zu ergründen. Warum ruft der Kapitalismus Armut hervor? Verkürzt betrachtet behält laut Theorie der Kapitalbesitzer mehr ein als den Tauschwert, den er an den Arbeitnehmer als Lohn weiterreicht. Dieser Zugewinn müsste streng genommen zwischen Unternehmer und Arbeitnehmer aufgeteilt werden, denn der Mehrwert würde von beiden erwirtschaftet, erklärt Fahimi. So gesehen hätte der Beschäftigte „mehr“ verdient – ginge es gerecht zu. Dieser Grundgedanke finde sich noch heute im Tarifvertrag wieder, betont die Gewerkschafterin. In den Verhandlungen würde geregelt, wie der Profit aufgeteilt werde.
Was Fahimi aber viel mehr an Marx fasziniere, sei seine Wertehaltung, sagt sie. Sein Beharren bei der Frage, was denn überhaupt Zweck des Wirtschaftens sei. Ihm schwebte als Ziel die Freiheit des Individuums vor, die nur durch die Gemeinschaft zu erreichen sei, so Fahimi. Genau dieser Gedanken sei heute gefährdet. „Die Bedeutung von Gemeinwohl und öffentlicher Daseinsvorsorge wird geringer, Ungleichheit größer“, erklärt sie.
Die Religion des Silicon Valley
Genau das aber kritisiert Hüther, der Marx für einen Idealisten hält, weil sein Werk etwas verspreche, was Marx seiner Meinung nach nicht halten könne. Diese „säkularisierte Heilsgeschichte“ sei heute nicht mehr angemessen, sagt Hüther. Nachtwey kontert: Die neueste Religion käme aktuell aus dem Silicon Valley, betont er. Dort werde unendliches Leben und eine Gesellschaft versprochen, in der alles mit Technologien zu lösen sei.
Überhaupt zeige der Übergang in ein digitales Zeitalter, dass Marx noch immer aktuell sei. In seinem sogenannten „Maschinenfragment“ stellte er sich bereits eine voll automatisierte Produktion vor, beschreibt Nachtwey. Marx habe sich allerdings nicht gefragt, was geschehe, wenn nicht mehr genug Arbeit vorhanden ist. Vielmehr überlegte er, wie eine Gesellschaft aussehen könnte, in der der Mensch frei von schwer körperlicher Arbeit sei. Die Gesellschaft des digitalen Kapitalismus dagegen sei schon heute sichtbar, so Nachtwey. Auch sie produziere Ungleichheit: Dem Reichtum von Konzernriesen wie Amazon, Google und Co stünden prekäre Beschäftigung, Soloselbständigkeit und Niedriglohnökonomie gegenüber. SPD-Politikerin Fahimi fürchtet eine Ökonomie, in der nur noch das Ergebnis zählt und nicht die Frage, wieviel Zeit jemand für ein Produkt benötige. Sie warnt vor einer Entwertung von Leistung und Qualifikation, einer Entwertung von Tarifverträgen.
„Zucker für den eigenen Intellekt“
Immer wieder entspannt sich zwischen Hüther und Nachtwey die Diskussion über das Marxsche Gesetz zum tendenziellen Fall der Profitrate. Diejenigen, denen Seminare oder Kurse zur Theorie von Marx nicht fremd sind, erinnern sich möglicherweise noch an diese scheinbar nie enden wollenden Ausschweifungen. Die Journalistin Ulrike Herrmann weiß diese Debatten jedoch geschickt zu moderieren.
Für Yasmin Fahimi ist ohnehin nicht von Bedeutung, ob in Marx’ Schriften jedes Kapitel stimmt. Für sie ist die Frage entscheidend, welche Konsequenzen die Ökonomie auf unser Zusammenleben hat und wie wir die Art, wie wir zusammenleben wollen, umsetzen können. Um diese Fragen zu beantworten, lohne ein Blick in das Werk von Karl Marx. Und auch sonst sei es empfehlenswert. Fahimi: „Zucker für den eigenen Intellekt.“
hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.