Inland

Gros der Stuttgart 21-Gegner für mehr direkte Demokratie

von Nathalie Sopacua · 8. November 2010
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Diese Fragen hat das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) nun am Beispiel der Stuttgart 21-Demonstranten mit einer Blitzbefragung zu beantworten gesucht. Die WZB-Protestforscher Dieter Rucht, Britta Baumgarten und Simon Teune verteilten am 18. Oktober bei der Kundgebung gegen Stuttgart 21 im Schlossgarten 1.500 Fragebögen an Demonstranten- und erhielten einen Rücklauf von mehr als 800 (54 Prozent) Antwortbögen.

Danach ist über die Hälfte der Demonstranten zwischen 40 und 54 Jahre alt. Die Gruppe der Rentner ist unter den S21-Gegnern entgegen bisheriger Annahmen nur mit 14 Prozent vertreten. Jünger als 25 Jahre sind lediglich 7 Prozent. Vor allem Akademiker machen gegen das Bauvorhaben mobil: Etwa die Hälfte aller Befragten hat einen Universitäts- oder Fachhochschulabschluss, darunter 4 Prozent Promovierte. Damit ist der Anteil an Akademikern mit diesen Abschlüssen unter den Stuttgart21-Demonstranten mehr als doppelt so hoch wie in der Bevölkerung.

90 Prozent zu zivilem Ungehorsam bereit
In der Mehrheit stammen die Protestierenden aus der linken Mitte. Es handelt sich bei ihnen um kritische Demokraten, die ihren Protest gegen Stuttgart 21 als Chance sehen: nämlich sich für mehr direktdemokratische Verfahren einzusetzen und ihre Unzufriedenheit mit der Bundes- und Landesregierung auszudrücken. Ein weiterer Befund: 90 Prozent von ihnen sind sogar bereit, ihre Ziele auch mit Mitteln des zivilen Ungehorsams wie Besetzungen und Blockaden durchzusetzen.

Bemerkenswert sind die Hauptargumente gegen Stuttgart 21, denn mitnichten gehen allen voran die besorgten Anwohner auf die Straße. Vielmehr sorgen sich die Protestierenden in der Hauptsache um die hohen Kosten des Projekts und empören sich über Profite nur auf Seiten der Banken und Baukonzerne. Darüber hinaus sehen die Befragten erhebliche Demokratiedefizite bei der Planung des Projekts ebenso wie beim Umgang mit Projektgegnern.

Aufgeräumt werden konnte auch mit dem Vorwurf, die S21-Gegner hätten sich viel zu spät mit ihren Protesten gegen das Bauprojekt eingebracht. Über die Hälfte der Befragten haben sich bereits vor dem offiziellen Baubeginn im Februar 2010 engagiert. Für fast ein Drittel der Befragten (31 Prozent) war die Ablehnung des Bürgerentscheids im Jahre 2007 das ausschlaggebende Moment, erstmalig öffentlich gegen Stuttgart 21 zu agieren.

Polizeigewalt für viele ein Schlüsselerlebnis
Mit dem gewaltsamen Einschreiten der Polizei bei der Räumung des Schlossgartens am 30. September sahen viele ihr Vertrauen in die Landesregierung vollends erschüttert. Und ihr Unmut färbt inzwischen auch ab auf das Vertrauen in die Bundesregierung sowie auf die Polizei (die normalerweise großes Vertrauen in der Bevölkerung genießt).

Mit der Politikverdrossenheit einher geht für eine überwältigende Mehrheit der Befragten (84 Prozent) auch das mangelnde Vertrauen in das Funktionieren der Demokratie. Im Juli dieses Jahres traf dies laut ARD Deutschlandtrend auf lediglich 51 Prozent der Bevölkerung zu. Doch auch wenn die Demonstranten den Zustand der real existierenden Demokratie durchaus kritisch sehen, schätzen sie Wahlen mehrheitlich als wichtig ein.

Die Aussage "Ich sehe keinen Nutzen in Wahlen. Parteien machen ohnehin was sie wollen." lehnten fast 60 Prozent eher oder völlig ab. Ohnehin sind die Mehrheit von ihnen aktive Demokraten: Jeweils 91 Prozent gaben an, dass sie sich an der letzten Bundes- und Landtagswahl beteiligt haben.

Kluft zwischen Regierenden und Regierten
Festzustellen ist eine deutliche Verschiebung der Parteibindung hin zu Bündnis 90/Die Grünen. Wären am Sonntag Wahlen, würden 80 Prozent der Befragten auf Landesebene und 75 Prozent auf Bundesebene die Grünen wählen. Allerdings hatte der Großteil von ihnen bereits bei der vergangenen Landtags- (61 Prozent) und Bundestagswahl (49 Prozent) ihr Kreuz bei den Grünen gesetzt.

Während CDU, SPD und FDP bei den letzten Landtagswahlen zusammen noch von 23 Prozent der Montagsdemonstranten gewählt worden waren, kommen sie in der Sonntagsfrage gerade auf 1,6 Prozent. Die CDU kommt überhaupt nicht mehr vor. Demnach ist ein massiver Vertrauensverlust bei den Parteien zu beobachten, die Stuttgart 21 vorangetrieben haben.

Von der Tragweite der Stuttgart 21-Demonstrationen über Baden-Württembergs Landesgrenzen hinaus ist der Protestforscher Dieter Rucht nach Auswertung der Fragebögen jedenfalls überzeugt: Auch wenn es sich bei Stuttgart 21 lediglich um ein lokales bzw. regionales Bauprojekt handele, polarisiere es nicht nur die Bürgerschaft der Stadt. "Dieser Fall verdeutlicht auch eine generell sich abzeichnende Kluft zwischen Regierenden und Regierten. Er wirft damit Fragen auf nach dem Zustand der Demokratie in Deutschland", sagte Rucht.

Für mehr Transparenz und direkte Demokratie. Aktuelle Befragung des WZB: 90 Prozent der Demonstranten gegen Stuttgart 21 finden zivilen Ungehorsam legitim: Kurzbericht und Fragebogen unter www.wzb.eu/aktuel

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