Inland

Gegen Bildungsmittelmaß

von Dagmar Günther · 6. November 2008
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Wussten Sie, dass jährlich 80 000 Mädchen und Junge die Schule ohne Abschluss verlassen? Dass 50 Prozent der Hauptschüler 13 Monate nach Schulende noch keinen Ausbildungsplatz haben? Dass jeder fünfte Schulabgänger in Deutschland als nicht ausbildungsreif eingestuft wird? Dass etwa 20 Prozent der Schulabgänger gerade mal auf Grundschulniveau lesen, schreiben und rechnen könnten? Dass Eltern durchschnittlich 1.500 Euro pro Jahr für Nachhilfeunterricht ausgeben? Dass nur 17 Prozent der deutschen Entscheider zufrieden mit den Leistungen der Schule in Mathematik sind?

Das ist ein Skandal. Bundeskanzlerin Merkel reagierte, indem sie im Juni 2008 einen nationalen Bildungsgipfel von Bund und Ländern ausrief. Im Oktober setzten sich die zuständigen Politiker aus allen Bundesländern in Dresden an einen Tisch. Bildung für alle müsse die zentrale Aufgabe des kommenden Jahrzehnts sein, die Bundesrepublik zu einer Bildungsrepublik werden, denn schlechte Bildung heißt schlechte Chancen - war die einhellige Meinung.

Was wirklich gebraucht, vermisst und gewünscht wird
Aber weiß, Politik, was wirklich gebraucht, vermisst und gewünscht wird? Das fragten sich die Herausgeberinnen des Sammelwerkes "Bildungslückengegner" Swea von Mende und Julia Wetzel. In dem 150 Seiten starken, knapp einen Monat vor dem Gipfel erschienenen Band beantworten bekannte Persönlichkeiten aus Forschung und Wissenschaft, Kunst, Unterhaltung, Sport, Medien, Wirtschaft und Kulturgeschichte, darunter Dr. Christian Alt, Maria Furtwängler, Julia Franck, Dr. Michael Groß, Maybrit Illner, Dr. Margot Käßmann, Prof. Dr. Julian Nieda-Rümelin, Katharina Saalfrank, Walter Sittler, Sarah Wiener und viele andere die folgenden Fragen:
- Welche Note geben Sie dem deutschen Schulsystem? Warum?
- Wo sehen Sie die Stärken des deutschen Schulsystems?
- Welche Themen und Grundqualifikationen kommen zu kurz?
- Was sollte eine gute Schulbildung in der heutigen Zeit leisten?
- Wir brauchen die Besten der Besten. Was würde den Lehrerberuf attraktiver machen?
- Welche Funktion sollten die Eltern im deutschen Bildungssystem haben?
- Was würden sie sofort an unserem Schulsystem ändern.
Frisch und frei von der Leber weg diskutieren sie. Sie drücken auf die Knackpunkte, legen den Finger in so manche Wunde, finden Auswege und erfinden neue Systeme für das Lernen.

Wenn der Unterricht erst um 9 Uhr begänne
Erstaunlich, oder eigentlich auch wieder nicht, dass alle dem dreigliedrigen Schulsystem schlechte Noten geben. Längeres gemeinsames Lernen sei die Lösung, am besten in Ganztagsschulen, und weg vom Föderalismus hin zu einem bundeseinheitlichen System der bessere Weg. Zu viel Frontalunterricht, zu große Klassen, zu wenig Lehrer, zu wenig neue Lehr- und Lernmethoden bemängeln sie und fordern ein komplett neues Lehramtsstudium, höhere Selbstständigkeit der und bessere Arbeitsbedingungen an den Schulen, mehr Weiterbildung für Lehrer, aber auch Hilfen für Eltern... Und so mancher fände es viel effektiver entsprechend dem Biorhythmus der Kinder erst um 9 Uhr mit dem Unterricht zu beginnen!

Entstanden ist eine eindrucksvolle Sammlung verschiedenster Auffassungen und Anregungen, die zum (Um-)denken beitragen sollen - damit jedes Kind in Deutschland einen qualifizierten Abschluss erreichen kann. Lücken in der deutschen Schulbildung werden aufgedeckt und Impulse gegeben, wie diese geschlossen werden können. Aber auch Stärken werden genannt, die ausgebaut werden müssen, ganz besonders die der Kinder. Schade nur, dass ausschließlich Prominente zu Wort kommen. Auch eine ganz einfache Mutter oder ein Vater, ein ganz normaler Grundschul-, Realschul- oder Gymnasiallehrer hätte sicherlich einiges beisteuern können.

Doch immerhin wurde zeitgleich mit dem Erscheinen des Buches auf der Internetseite www.bildungslueckengegner.de ein Fragebogen zur Bildungssituation freigeschaltet. Hier können Interessierte die Vorschläge der Buchautoren bewerten und ihre eigene Meinung äußern. So soll eine deutschlandweite Diskussion angeschoben werden - die von jedem mitgeführt werden kann. Denn Bildung ist für alle ein zentrales Thema. Man darf gespannt sein auf die Ergebnisse der Umfrage, die sicherlich irgendwann auf der Internetseite nachzulesen sein werden. Den Herausgeberinnen sei schon jetzt gedankt - auch für die Bildungs-Statistiken und die Links zu Lehr- und Entwicklungskonzepten, Bildungsinitiativen, Wettbewerben und Stipendien, die sie zusammengestellt haben.


Swea von Mende, Julia Wertzel (Hg.): Bildungslückengegner: Prominente geben Impulse für bessere Schulen in Deutschland. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2008, 152 Seiten, 14,95 Euro, ISBN 978-579-06894-7

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Autor*in
Dagmar Günther

war bis Juni 2022 Chefin vom Dienst des vorwärts.

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