vorwärts.de: Herr Krüger, wir leben in einem der reichsten Industrieländer. Gemessen an dem Alltag von Kindern in anderen Teilen der Welt geht es unserem Nachwuchs sehr gut. Warum machen
Sie sich Sorgen?
Thomas Krüger: Ich mache mir vor allem Sorgen darum, dass in unserer Gesellschaft nicht gesehen wird, dass ein großer Teil der Menschen in Armut lebt. Und davon sind mittlerweile
drei Millionen Kinder betroffen.
Was heißt denn Armut bei deutschen Kindern?
Ihre Familien leben von weniger als 50 Prozent des Durchschnittseinkommens der Deutschen und sind damit auf ergänzende Leistungen des Staates angewiesen.
Was konkret bedeutet das für die Kinder? Müssen sie auf etwas verzichten?
Es bedeutet den Ausschluss aus vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Da wird die Einladung zum Kindergeburtstag abgesagt, weil das Geld für ein Geschenk fehlt - und vor allem das
Geld, um die Gegeneinladung auszusprechen, um ein eigenes Fest auszurichten. Es fehlt das Geld für den Sportverein, für Kinobesuche.
Und die öffentliche Hand kann das nicht mehr ausgleichen. Die Kommunen leiden selbst unter Sparzwang, so dass Einrichtungen wie Schwimmbäder und Zoos heute erhebliche Einnahmen erzielen
müssen - und entsprechend hohe Eintrittspreise erheben.
Diese Kinder sind benachteiligt. Was mich wirklich beunruhigt: Unsere Gesellschaft hat Techniken entwickelt, solche Benachteiligungen einfach auszublenden.
Was hat das zur Folge?
Eine Entmischung der Gesellschaft. Benachteiligungen zementieren sich, vererben sich. Wer in einer benachteiligten Umgebung aufwächst, ist in der Regel selbst auch benachteiligt. Und die
Befreiung aus solchen Situationen wird immer schwerer. Das ist es auch, was ich im Kontext des Abbaus von Sozialleistungen problematisieren will.
Im Zusammenhang mit dem Sparpaket haben sie erklärt, die Bundesregierung habe "kein Herz für Kinder". Wie kommen Sie dazu?
Wenn man sich anschaut, wie die Sparleistungen auf die verschiedenen Gruppen der Gesellschaft verteilt sind, fällt geradezu ins Auge, dass diejenigen, denen es ohnehin schon relativ
schlecht geht, überproportional belastet sind. Und dass die Verursacher dieses ganzen Dilemmas, diejenigen die im oberen Zehntel der Gesellschaft existieren, gar nichts beitragen. Da wird
argumentiert, die müssen investieren, die müssen den wirtschaftlichen Aufschwung wieder herbeiführen von dem alle anderen dann profitieren. Und die melden sich jetzt teils selbst zu Wort, um
selber einen Sparbeitrag erbringen zu dürfen.
Sie spielen auf einige Wohlhabende an, die sich für eine so genannte Reichensteuer oder wahlweise für eine Anhebung des Spitzensteuersatzes stark machen.
Genau, wenn selbst die Profiteure dieser Sparbeschlüsse sagen, das ist nicht gerecht, ist das ein weiterer Beleg für die Schieflage dieses Sparpakets. Für Skilifte ist jetzt nur noch der
verminderte Mehrwertsteuersatz fällig: Das sind doch indirekte Subeventionen an die Top Ten der Gesellschaft.
Es ist eine vorsintflutliche Gesellschaftspolitik, die da betrieben wird. Im Grunde wird die Schere zwischen Arm und Reich weiter aufgespannt, sie wird zementiert ohne Rücksicht auf
Verluste. Ein großer Teil derer, die die Zukunft der Gesellschaft ausmachen, wird systematisch benachteiligt.
Und da darf man schon mal eine kritische Äußerung machen.
Sie fordern, es müsse in die Zukunft des Landes investiert werden. Die Bundesregierung behauptet, sie tue dies, indem sie die Ressorts Bildung und Wissenschaft von der Sparrunde
ausgenommen hat.
Von ihrem Versprechen, zehn Prozent des Bruttoinlandseinkommens für Bildung zu investieren, ist die Bundesregierung noch weit entfernt. Außerdem bin ich sehr gespannt, ob der
Regierungsentwurf, der dem Parlament zur Beratung vorgelegt wird, dann tatsächlich keine Einsparungen im Bildungsbereich enthält.
Ein großer Sparposten ist die Streichung des Elterngeldes für die Bezieher von Hartz IV. Wie viele Menschen sind davon betroffen?
130.000 Familien, das sind 16 Prozent aller Elterngeldbezieher. Denen fehlen dann 300 Euro im Monat, das ist ein großer Einschnitt. Ein hohe Zahl Menschen wird so von Bereichen des
öffentlichen Lebens abgeschnitten. Die Verarmung von ganzen Teilen der Gesellschaft wird so fortgesetzt. Denn man darf nicht vergessen: Die gleiche Bevölkerungsgruppe musste schon vor kurzem
einen Einschnitt verkraften, als das Elterngeld eingeführt wurde. Denn zuvor konnten Familien mit wenig Einkünften bis zu zwei Jahre 300 Euro monatlich Erziehungsgeld erhalten. Ich halte diese
Prozesse für gravierend - und ich bezweifle, dass die Menschen das auf Dauer hinnehmen.
Nicht nur die Ärmsten sind betroffen. Sie kritisieren auch die Senkung der Bemessungsgrundlage des Elterngeldes, dies trifft ja eher die Mittelschicht.
Da sprechen Sie eines der gravierendsten Probleme an: Bei Einkommen die über 1240 Euro liegen wird die Bemessungsgrundlage von 67 auf 65 Prozent gesenkt. Betroffen ist also gerade der
unterste Bereich der Mittelschicht. Für Gutverdiener mit mehr als 2700 Euro netto im Monat ändert sich hingegen nichts.
Die Mittelschicht ist längst entzündet und befindet sich in einem hochnervösen Zustand voller Abstiegsängste.
Welche Auswirkungen des Sparpakets fürchten Sie?
Konkret rechnen wir mit mehr Hilfeanfragen. Seit Bekanntwerden der Sparpläne beobachten wir schon, wie Familien vermehrt ausloten, wo es noch Unterstützung gibt, etwa für die
Erstausstattung von Neugeborenen.
Der Druck auf die Nichtregierungsorganisationen (NGO) nimmt also zu?
Ja, das merken wir schon deutlich beim Kindernothilfefonds des Deutschen Kinderhilfswerkes. Der hilft in Notsituationen mit Sachspenden, etwa einer Waschmaschine oder einem Kinderwagen.
Aber es ist eben ein Instrument für den Notfall und es kann nicht sein, dass NGO´s künftig öffentliche Aufgaben übernehmen.
Welche langfristigen Folgen erwarten Sie?
Die bestehenden Bildungsbenachteiligungen werden sich noch verschärfen. Denn man darf nicht nur das staatliche Aufkommen von Bildung sehen. Bildung ist immer auch mit finanziellen
Belastungen in Familien verbunden. Das fängt bei den Bilderbüchern an und geht mit der Einschulung weiter. Junge Familien sind im Regelfall arme Familien und beschränkte Budgets schlagen auf den
Bildungsbereich durch. Studien zeigen, dass Kinder aus sozial schwachen Haushalten schlechtere Schulabschlüsse machen. Gleichzeitig beklagen die Unternehmen, dass es nicht genügend qualifizierte
Arbeitskräfte gibt.
Bildung und sozialer Ausgleich haben also auch eine ökonomische Komponente?
Das denke ich. Die Bundesrepublik hat auch im Vergleich mit anderen Staaten ihren gesellschaftlichen Zusammenhalt aber auch ihre ökonomische Stärke immer dadurch bezogen, dass sie so etwas
wie einen Konsens darüber hatte, dass Werte wie Gerechtigkeit, sozialer Zusammenhalt und Solidarität einen besonders hohen Stellenwert hatten.
Dies war auch immer durch staatliche Leistungen sichergestellt. Offenbar sind diese Zeiten jetzt vorbei.
Die Frage ist, ob die Politik damit nicht den Standortvorteil, den Deutschland hat, leichtfertig auf´s Spiel setzt.
Bis zum Jahresende muss der Hartz-IV-Satz für Kinder neu geregelt werden, dies hat das Bundesverfassungsgericht entschieden. Was erhoffen Sie sich von der Neuregelung?
Ich erhoffe mir eine Erhöhung der Regelsätze. Ich befürchte allerdings, dass die Politik das Gerichtsurteil interpretiert und benutzt, um die Mittel sogar noch abzusenken. Das aktuelle
Sparpaket hat genügend Anhaltspunkte dafür geliefert, wo die Reise bei den Sozialleistungen offenbar hingehen soll.
Das sind hochproblematische Entwicklungen. Es bedarf lautstarker Stimmen der Kinderverbände. Außerdem brauchen wir eine kontroverse öffentliche Debatte darüber, was uns unsere Kinder in
Zukunft überhaupt noch Wert sein sollen.