„Bürger Gauck“ ist Bundespräsident. Gleich in seiner ersten Rede stimmte Joachim Gauck einen eigenen Ton an. Bei ihm ist auch das Persönliche politisch, und das Politische nicht dem Leben entrückt. „Was für ein schöner Sonntag!“ Mit diesen scheinbar schlichten Worten wandte sich der frisch gewählte Präsident an die Bundesversammlung.
Er werde nicht alle Erwartungen erfüllen können, nahm Gauck sich gleich selbst wieder von dem Sockel, auf den ihn manche hatten heben wollen. Aber er werde sich anstrengen. Sich in Themen einarbeiten, die ihm noch fremd sind. Auch zuhören.
„Hört ihm zu!“ hatte Hans-Jochen Vogel seine Genossinnen und Genossen aus der SPD am Vorabend ermahnt. Es lohne sich. Er wisse, dass sich an Joachim Gauck auch manche Sozialdemokraten rieben, er jedoch kenne ihn persönlich aus dem Verein „Gegen Vergessen“ und dem gemeinsamen Einsatz gegen Rechte und rechte Ideen. Und er sei glücklich darüber, dass seine SPD Gauck nominiert habe - und dass „die anderen“ jetzt auch dazugelernt hätten.
Bernd Faulenbach, im Getümmel Vogel lauschend, nickte. Auch er habe mit Gauck zu tun gehabt, als Vorsitzender der Historischen Kommission beim Parteivorstand der SPD. Und er habe, wie Vogel, Gauck als jemanden kennengelernt, der zuhört und dazulernen will.
Dass er zuhören kann, bewies Gauck auch am Sonntag, als er noch auf der Zuschauertribüne des Bundestags saß. Von seiner Kanzel aus schlug Bundestagspräsident Norbert Lammert vor, künftig immer am 18. März den Bundespräsidenten - oder auch Bundespräsidentinnen - zu wählen. Gauck lachte und nickte. Dutzende von Kameras hielten sie fest, Gaucks erste, gleichsam prä-präsidiale Amtsäußerung.
Vermutlich hat Michael Hartmann das nicht sehen können, doch es hätte ihn erfreut. Der innenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion hat ein ganz besonderes Verhältnis zum 18. März. Kaum war Gauck gewählt, eilte Hartmann hinaus aus dem Reichstagsgebäude und hinüber zum Brandenburger Tor. Dort hatte sich, wie alljährlich, eine bunte, überschaubare, aber entschlossene Schar von Demokraten versammelt, die unermüdlich fordert, den 18. März zum deutschen Gedenktag zu erheben.
Am 18. März 1848 erhoben sich Berliner Bürger gegen Feudalismus und Obrigkeitsstaat, für Pressefreiheit und die deutsche Einheit. Preußische Soldaten schossen ins Volk, töteten 270 Männer, Frauen und Kinder.
Am 18. März 1990 wurden die Abgeordneten der Volkskammer der DDR zum ersten Mal demokratisch gewählt. Unter den neuen Parlamentariern war: Joachim Gauck, Sprecher des Neuen Forums in seiner Heimatstadt Rostock. Er schwor sich damals, sagte der neue Bundespräsident in seiner ersten präsidialen Rede: „Ich werde niemals, niemals eine Wahl versäumen.“
Am 18. März 1793 wurde in Mainz die erste Republik auf deutschem Boden ausgerufen. Daran erinnerte Michael Hartmann die Schar, die sich auf dem „Platz des 18. März“ am Brandenburger Tor versammelt hatte. Auch dieser erste Anlauf zu einem demokratischen Deutschland hat blutig geendet. „Dennoch ist die Idee fortgetragen worden,“ rief Hartmann den zwei-, dreihundert Versammelten zu.
Im Berlin der Nachwendejahre war nicht jeder entzückt, als eine überparteiliche Gruppe den Platz am Brandenburger Tor, ja ursprünglich die Straße des 17. Juni bis zur Siegessäule, umbenennen wollte. Ein grüner und ein schwarzer Bezirksbürgermeister stellten das erste Straßenschild illegal auf. Einfach so. Ein sozialdemokratischer Bezirksbürgermeister hielt die Leiter fest. So jedenfalls erzählt Volker Schröder die Geschichte. Der Grüne Schröder ist Gründer der „Aktion 18. März“. Der übrigens auch die Abgeordnete der Linken, Petra Pau, angehört.
Es ist eine Aktion, die Joachim Gauck gefallen muss. 991 Mitglieder der Bundesversammlung hoben den einstigen Rostocker Pfarrer ins höchste Amt der Republik. Das entsprach 80 Prozent der gültigen Stimmen. Die 108 Enthaltungen dürften überwiegend aus dem Lager der Union gekommen sein, wurde in den Wandelgängen des Parlaments vermutet
Beate Klarsfeld erhielt mit 126 Stimmen drei Stimmen mehr, als die Linksfraktion Wahlfrauen und -männer hatte. Die Verkündung dieser Zahl brachte die Linken denn auch zum Jubeln - das einzige Mal an diesem für sie sonst offenbar nicht so „schönen Sonntag“. Für Gauck und während dessen Rede rührte sich im Linkenlager kaum eine Hand. Und auch als, von pastoralen Posaunen begleitet, „Einigkeit und Recht und Freiheit“ singend beschworen wurden, blieb die Fraktion der Linken freudlos stumm.
Gauck war während der Verkündigung des Wahlergebnisses in die Mitte der Versammlung platziert worden. Eigenhändig schob er seinen Stuhl bescheiden noch ein wenig zurück, hinein in die Wahlleutereihen. Und demonstrativ streckte er, nach seiner Wahl, seine Hände nach rechts und nach links aus. Zufällig saßen dort Renate Künast (Grüne) und Peter Altmaier (CDU), die von der Geste offensichtlich überrascht wurden.
Erster aktiver Gratulant war Frank-Walter Steinmeier, dicht gefolgt von Sigmar Gabriel. So machten der Fraktions- und der Parteichef der SPD lautlos deutlich, wessen Kandidat Joachim Gauck zuerst gewesen ist. Kanzlerin Merkel und ihr Kabinett mussten ein paar sprechende Sekunden lang warten.
Im Vorfeld der Bundesversammlung hatte es ein Gerangel darum gegeben, wo Gauck, so lange er noch „nur“ Bürger war, sitzen sollte. Einige Sozialdemokraten hielten es für einen perfiden Trick des Bundestagspräsidenten, Gauck zwischen Grüne und Schwarze zu setzen.
Überhaupt nicht deutlich wurde an diesem schönen Sonntag die Leistung der FDP. Deren erste Garde musste länglich warten, bis sie gratulieren durfte - dabei hatte sich Philipp Rösler doch so viel darauf zugutegehalten, Angela Merkel zum Gauck-Fan zwangsbeglückt zu haben!
Es wird viel geredet, während die Mühlen der Demokratie sich langsam drehen. Von der Pressetribüne aus stellten die professionellen Beobachter des politischen Betriebs nicht nur Beobachtungen an, sie teilten sie auch zugleich ihrem Umfeld mit. Eine kleine Auswahl aufgeschnappter Bemerkungen:
„Da ist Torsten Albig. Neben Beck und Platzeck – schon im Kreis der Ministerpräsidenten.“ (In Schleswig-Holstein wird am 6. Mai ein neuer Landtag gewählt. Der Kieler OB Albig will für die SPD Regierungschef werden.)
„Der Biedenkopf ist ganz allein. Keiner redet mit ihm.“
„Rehhagel sitzt zwischen den Bayern. Der erklärt denen sicher, wie man die Abwehrreihen geschlossen hält.“ (Fußballtrainer Otto Rehhagels Hertha BSC hatte am Vortag 0:6 gegen Bayern München verloren.)
„Der Vogel und der Ude, die sehen aus wie Vater und Sohn.“
Hans-Jochen Vogel war, gern gemeinsam mit seinem christdemokratischen Bruder Bernhard, gefragter Gast der vielen Fernsehreporter, die im Foyer des Reichstags sozusagen fliegende Studios eingerichtet hatten und jeden abfingen, der wie ein Bedeutungs- oder mindestens Erinnerungsträger aussah. Sehr begehrt auch: Senta Berger, Wahlfrau für Bayerns SPD. Sie zeigte sich froh, Joachim Gauck ihre Stimme geben zu können - fast noch lieber aber hätte sie, sagte sie, Gesine Schwan gewählt.
Um 9 Uhr hatte der Wahltag mit einem ökumenischen Gottesdienst in der Französischen Friedrichstadtkirche begonnen. Der Gendarmenmarkt war um die Kirche herum großräumig abgesperrt worden, um Platz für Limousinen und Busse zu schaffen: die gelassene Grandezza der Demokratie. Nur wenige Schaulustige standen zu dieser für Berlintouristen offensichtlich frühen Stunde hinter den Absperrgittern. Die meisten wohl auch eher aus Zufall. Viel geknipst wurde die schwarze Mercedes-Limousine mit dem großen Stander, auf dem der Bundesadler prangt. „Der Gauck darf doch damit noch gar nicht fahren,“ vermutete eine Beobachterin zu Recht. Es war denn auch „der Seehofer“, der sich schließlich nach dem Gottesdienst zur Staatskarosse Nummer Eins begab - als Präsident des Bundesrates und oberster Repräsentant der Republik in präsidentenlosen Zeiten.
Die ja nun vorüber sind. „Nach dem Grundgesetz wird der Bundespräsident für fünf Jahre gewählt,“ erinnerte Norbert Lammert an eine vermeintliche Selbstverständlichkeit. Er hoffe, „dass die politische Realität auch in dieser Hinsicht wieder näher an die Verfassungsnorm“ rücke.
Indem sich Lammert der Initiative 18. März quasi anschloss, trat er als Geschichtsversöhner auf - und vielleicht das letzte Mal in der Rolle des eigentlichen Ersatzpräsidenten. Die Revolution von 1848, sagte er, „war beides: der proletarisch dominierte Aufstand gegen die gewalttätige Obrigkeit und die vom Bürgertum getragene parlamentarische Auflösung des Konflikts zwischen Krone und Volk“.
Dazu passte, dass Joachim Gauck seine schlichte, kurze erste Rede in der Feststellung gipfeln ließ, Deutschland sei „unser Land“. Unser aller: derer, die schon länger hier seien wie derer, die erst vor kurzem dazugekommen seien; derer, die sich engagieren wie auch derer, die sich für nichts engagieren.
Es gehe darum, den Kindern aller dieser Gruppen ein Land zu hinterlassen, von dem auch diese Kinder eines Tages werden sagen können, und zwar so freudig wie Bundespräsident Joachim Gauck: „Es ist unser Land.“