Inland

„Erst mit dem Tod aus der NSDAP ausgetreten“

von ohne Autor · 28. November 2011
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vorwärts.de: Im Lodzer Getto, dessen Verwaltung dem Rathaus oblag, herrschten Hunger und Seuchen. Rund 140 000 Menschen wurden von dort ins Gas der Vernichtungslager geschickt. Welche Schuld trägt Ihr Vater Werner Ventzki an alldem?

Jens-Jürgen Ventzki: Die moralische Schuld steht außer Zweifel. Juristisch ist es sehr schwierig. Es gab während der 50er-Jahre mehrere Versuche, ihn anzuklagen, aber keine Staatsanwaltschaft hatte dafür genug Material in der Hand. Einen Mord konnte man ihm nicht nachweisen. Totschlag oder Beihilfe waren verjährt. Heutzutage würde er sicherlich vom Internationalen Strafgerichtshof verurteilt - wegen der Beteiligung am Genozid durch seine Verwaltungsarbeit.

"Ich musste lernen, meinen Vater auch als Figur der Zeitgeschichte zu akzeptieren", schreiben Sie in Ihrem Buch. Was lief da bei in Ihnen ab?

Das war ein langer Prozess. Der Durchbruch war eine Ausstellung im Jüdischen Museum Frankfurt am Main zum Getto von Lodz im Jahr 1990. Einem Dokument entnahm ich, dass mein Vater die Kleidung der im KZ Chelmno ermordeten Juden einsammeln und unter den Deutschen verteilen ließ.

Jemanden als historische Figur zu sehen, heißt auch, seine Gefühle für ihn hintanzustellen. Fiel Ihnen das schwer?

Ja. Ich konnte mir anfangs nicht vorstellen, dass mein Vater verbrecherische Dinge getan hat. Unser Vater, den wir so geliebt haben, weil er mit uns Kindern so viel Quatsch gemacht hat. Aber schon vor der Frankfurter Ausstellung kam über die wissenschaftliche Literatur immer mehr über die NS-Verbrechen ans Licht. Mein Vater tauchte häufig im Personenregister oder in einzelnen Kapiteln dieser Bücher auf. Den Mut, selbst zu recherchieren, hatte ich erst ab 1990. Trotzdem ließ ich den Frankfurter Ausstellungskatalog zehn Jahre lang liegen. Ich habe mich nicht getraut, ihn zu öffnen, weil ich wusste: Da liegen Leichen im Keller.

Was unterschied den Vater, den Sie kannten, von dem Nazi-Funktionär?

Ich hatte zwei Väter. Ich kriege sie nicht zusammen. Wie schon der Titel meines Buches andeutet: Ich habe mehrere Bilder von ihm: Das des Vaters und des Täters. Mit Historikern habe ich Dokumente und Fotos gesichtet. Manchmal sprach ich dabei so distanziert von ihm, dass man mir sagte: "Aber das ist doch Ihr Vater!"

Mit welchen Gefühlen fahren Sie heute durch Lodz, das unter deutscher Okkupation "Litzmannstadt" hieß?

Wenn ich mit meiner Frau und den Töchtern nach Polen reise, kommen wir nie als Touristen. Die Geschichte bleibt im Hinterkopf. Beim letzten Besuch haben wir das ehemalige Lager für Sinti und Roma, das ein Teil des Gettos war, besichtigt. Von dort wurden sie nach Chelmno deportiert. Schon waren die Verbrechen der Deutschen wieder präsent.

Im hohen Alter hat Ihr Vater bei Familienfesten mit seinen Kontakten zu Hitler geprahlt. Warum scheuten Sie die Auseinandersetzung mit ihm?

Weil ich wusste, was kommen würde. Erst nach dem Tod meiner Mutter wollte mein Vater über die Vergangenheit reden - wir Kinder wollten es aber nicht hören. Er hat nie erfahren, dass ich in Lodz war. Als ich ihn einmal auf das Getto ansprach, bestritt er, jemals dort gewesen zu sein. Aber das ist nicht wahr. Vor elf Jahren war Polen Gastland der Frankfurter Buchmesse. Ich schwärmte ihm vom polnischen Pavillon vor. Er sagte nur: "Die Polen haben nie etwas zur europäischen Kultur beigetragen." Solche Sätze werde ich nie vergessen.

Aufarbeitung auf der einen, jahrzehntelanges Schweigen in der Familie auf der anderen Seite: Wie sind Sie mit diesem Zwiespalt umgegangen?

Die Dokumente reichten mir. Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn ich meinen Vater während seiner letzten Jahre mit seinen Taten konfrontiert hätte. Für die Aufarbeitung war es bedeutungslos.

Trotzdem war es einWiderspruch, eine historische Recherche zu beginnen, ohne den wichtigsten Zeugen zu befragen.

Sie haben recht. Aber es war eine nicht ganz unproblematische Vater-Sohn-Beziehung. Es gab eine emotionale Barriere.

Man hat den Eindruck, Ihr Vater blieb bis zum Tod ein übermächtiger Mensch in Ihrem Leben. War sein Tod eine Befreiung, gerade auch für die Erforschung der Kriegszeit?

Als er starb, empfand ich keine große Trauer. Er war 98 Jahre alt, sein Leben war zu Ende. Ich hatte mich von meinen Eltern lange zuvor innerlich entfernt.

Verdrängung, Traumata und fehlende Trauerarbeit: Häufig ist davon die Rede, die "Kriegskinder" hätten die Erfahrungen ihrer Eltern reproduziert. Würden Sie das auch von sich sagen?

Meine Eltern sind innerlich erst mit ihrem Tod aus der NSDAP ausgetreten. Mein Vater hat keinerlei Trauerarbeit geleistet, meine Mutter wohl auch nicht. Wir Kinder waren der Verdrängung ausgesetzt. Wir wussten, dass die Eltern rechtsnational eingestellt waren. Schließlich hatten sie sich dem Gesamtdeutschen Block/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten angeschlossen. Dass sie allerdings mit Verbrechen zu tun hatten, war uns damals nicht klar. Wie in vielen dieser Familien war es schwierig, Strukturen aufzubrechen. Meine Schwester hat sich vor meinem Buch gefürchtet. Nachdem sie es gelesen hatte, sagte sie: "So schlimm ist es gar nicht!"

In den 60er-Jahren stellten viele Kinder ihren Eltern erstmals unbequeme Fragen zum NS-Staat. Wie ging es Ihnen als junger Erwachsener?

Damals herrschte der Kalte Krieg. Beide Eltern waren politisch sehr interessiert und engagiert. Die Gegenwart war sehr präsent, die jüngste Vergangenheit kaum, was auch am Schulunterricht lag. Polen war weit weg, ich hatte keine Vorstellung von Lodz. Noch in den 70er-Jahren kannte man die Stadt allenfalls aus dem Schlager von Vicky Leandros.

Auch Ihre Geschwister verkniffen sich kritische Fragen?

Wir alle haben das verdrängt. Der Familienfrieden sollte nicht gestört werden. Alle Kinder zogen früh von zu Hause aus. Ein- oder zweimal im Jahr kamen wir zusammen. Dann redete man über anderes.

Wie haben Sie einen eigenen Zugang zur Zeitgeschichte entwickelt?

Ich ahnte irgendwas, traute mich aber nicht heran. Da es verbunden war, mit den Menschen, die man liebt, war es umso schwieriger. Ich las sehr viel und kam während mit meiner Ausbildung zum Verlagsbuchhändler immer wieder mit dieser Thematik in Berührung. Dennoch fehlte mir der Mut, die Eltern zur Rede zu stellen.

Wollten Sie sich mit Ihrem Buch von Ihrem Vater und dessen Geschichtsbild emanzipieren?

Die Verantwortung ist gewachsen durch die Erkenntnis, die ich gewonnen habe. Ich habe sehr viel Zuspruch für die Recherchen bekommen, auch von Opfern, von jüdischer Seite. Das ist fantastisch. Auch die Emanzipation ist wichtig.

Das Ergebnis liest sich wie eine erste Annäherung. Ist Werner Ventzkis Biografie zu Ende erzählt oder wird es eine umfassende Studie geben?

Ich habe versucht, die Geschichte meines Vaters in groben Umrissen darzustellen. Es ist ein Anfang. Mir war es wichtig, auch im Sinne der Überlebenden, das Buch abzuschließen, selbst wenn es Lücken gibt.

Sie schließen mit einem Zitat des Philosophen Ernst Bloch:"Erinnern ist nicht produktiv als Erinnern an das, was war, sondern wird nur dann

fruchtbar, wenn es zugleich an das erinnert, was noch zu tun ist." Was heißt das für Sie?

Das Schweigen und Beschweigen zu durchbrechen. Es ist wichtig, den Opfern zuzuhören. Wir waren mehrmals in Israel und haben Kontakt zu Überlebenden des Lodzer Gettos und zu deren Kindern. Es sind Freundschaften entstanden.Auch von diesen Begegnungen wollte ich erzählen: Sie sind eine Aufforderung weiterzumachen.


Info zum Buch:

Jens-Jürgen Ventzki: Seine Schatten, meine Bilder. Eine Spurensuche, Studienverlag, 2011.

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