Inland

Endlich mehr Lohn

von Yvonne Holl · 21. August 2014
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Mehr Geld in der Tasche und weniger Sorgen: 3,7 Millionen Menschen erwarten zum 1. Januar 2015 mit der Einführung des Mindestlohns die größte Gehaltserhöhung ihres Lebens.

Seit sechs Stunden steht Regina Richter im "Salon International" in Leipzig. Es ist fünf Uhr am Nachmittag, in einer Stunde hat die Friseurin Feierabend. Fünf Kunden hat die 62-Jährige bereits die Haare gewaschen, geschnitten und geföhnt. Nach dem Dienst setzt sie sich in ihr Auto und fährt nach Hause nach Parthenstein, einer kleinen Gemeinde im Landkreis Leipzig.

Seit mehr als 40 Jahren frisiert Regina Richter Haare. Als gelernte Hutmacherin hat sie 1969 an einer Qualifizierung zur Friseurin teilgenommen, seitdem schneidet, fönt und tönt sie. Und immer noch mit Leidenschaft. "Für mich ist Friseurin bis heute mein Traumberuf", sagt sie. Und fügt hinzu: "Trotz mancher Höhen und Tiefen, trotz des niedrigen Lohns." 5,16 Euro pro Stunde hat Richter bis vor einem Jahr verdient. Damit gehörte sie in Sachsen zu den gut Bezahlten ihres Handwerks. Die Spanne für Friseurlöhne ging dort runter bis auf 4,69 Euro. In Sachsen-Anhalt und Thüringen waren es sogar nur 3,38 Euro pro Stunde für Berufsanfänger direkt nach der Ausbildung.

"Stimme für die Tüchtigen"

Mit solchen Niedrigstlöhnen ist bald Schluss. "Es geht um Ihre Stimme für die Tüchtigen", warb Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) am 3. Juli im Bundestag. Die Abgeordneten sollten über ihr Gesetz zur Stärkung der Tarifautonomie abstimmen. Dies enthält neben Anreizen, häufiger Tarifverträge zu schließen, auch die Regelungen zum Mindestlohn. Der beträgt 8,50 Euro und gilt ab 1. Januar 2015. Abweichungen sind in einer zweijährigen Übergangszeit, also bis Januar 2017 möglich – wenn ein Tarifvertrag geschlossen wird.

535 Abgeordnete stimmten dem Gesetz zu, lediglich fünf waren dagegen, 61 enthielten sich. Andrea Nahles war die Freude und Erleichterung anzusehen. Die SPD-Ministerin hatte nie daran gezweifelt, dass die gesetzliche Lohnuntergrenze kommt. Schließlich war der Mindestlohn im Koalitionsvertag mit der Union vereinbart worden. Für die SPD war es in den Verhandlungen eine der zentralen Forderungen.

Denn Menschen wie Renate Richter sollen künftig von ihrem Lohn leben können. Nicht nur Friseure sind betroffen. Zu den Branchen, die bislang im großen Stil unter 8,50 Euro bezahlten, gehören Lebensmittelverarbeitung, Landwirtschaft, Taxigewerbe, Sicherheitswirtschaft und andere. Callcenter waren ebenfalls lange berüchtigt für schlechte Bezahlung. 7,75 Euro beträgt der derzeitige Durchschnittslohn beim Arbeitgeber von Christian Boll in Braunschweig. Gleichzeitig werden fast nur Teilzeitverträge vergeben, was den Verdienst ebenfalls senkt. Boll ist eigentlich Sozialpädagoge. Nach längerer Arbeitslosigkeit hat der 43-Jährige den Job im Callcenter angenommen. Mit dem Gehalt seiner Frau kommt das Paar über die Runden. Für einen Alleinverdiener sei es nicht ausreichend, sagt er. Einige Kollegen müssen ihr Gehalt vom Staat aufstocken lassen, um ihre Familie durchzubringen. Ähnliches berichtet die Friseurin Richter: "Ich kenne Kollegen, die sind noch nicht einen Tag verreist." Viele sparten ihr Trinkgeld, um sich einen Wunsch zu erfüllen. "Ich finde es demütigend, wenn man arbeiten geht, und trotzdem zum Amt muss", so die Parthensteinerin. 

Kein Einfluss auf Beschäftigung

Es sind Lebensrealitäten wie die von Richter und Boll, die die SPD mit dem Mindestlohn verbessern will. "Fast vier Millionen Menschen werden ab Januar besser schlafen, besser zurechtkommen und besser fühlen, dass ihre Arbeit sich lohnt", sagt Andrea Nahles. Viele haben schon jetzt mehr Geld in der Tasche. Fünf Millionen Menschen, würden von der Einführung des Mindestlohn profitieren, schätzten Experten noch 2012. Dass die Zahl derjenigen, die am 1. Januar 2015 schlagartig mehr verdienen, auf "nur noch" 3,7 Millionen gesunken ist, ist ein gutes Zeichen. Es bedeutet nämlich, dass viele Branchen ihre Löhne in Erwartung des neuen Gesetzes schon angehoben haben. Auch noch positiv: Zahlreiche Branchen, bei denen das jahre- bis jahrzehntelang nicht möglich schien, haben endlich Tarifverträge geschlossen,

Das ist ein Verdienst von Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles, ihrer Hartnäckigkeit, keine branchenspezifischen Ausnahmen zuzulassen. Eine wichtige Rolle spielte der im Arbeitsministerium durchgeführte "Branchendialog". Denn ob Taxifahrer, Friseure oder Bauern: Quer durch die Republik erklärten Arbeitgeber, es sei ja im Prinzip gut und richtig, Menschen ordentlich bezahlen zu wollen. Nur eben speziell in ihrer Branche sei das leider nicht möglich. Ansonsten drohten Firmenschließungen. "Wir haben überall Hilfe angeboten", sagt Nahles. Und die wurde angenommen. Die Arbeitsministerin musste Kritik einstecken für die zweijährige Übergangsfrist. Konkret kann in dieser Zeit weniger als 8,50 bezahlt werden – wenn es einen Tarifvertrag gibt. Die Frist nahm Arbeitgebern das Argument, die Lohnerhöhung komme zu plötzlich, man könne sich nicht darauf einstellen.

Regina Richter bekommt schon seit vorigem Jahr mehr Geld. Im April 2013 wurde nämlich der Mindestlohntarifvertrag für das Friseurhandwerk abgeschlossen, seit November ist er allgemeinverbindlich und sichert sieben Euro Stundenlohn. Dieser steigt weiter. Seit 1. August dieses Jahres sind es 7,50 Euro, und zum 1. August 2015 wird jeder Friseur in Deutschland den gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro verdienen. Die Branche nutzt den zweijährigen Spielraum also nur für ein halbes Jahr.

Flächendeckender Mindestlohn

Auch in der Landwirtschaft ist die schrittweise Heranführung inzwischen beschlossen: auf 8,60 Euro Anfang 2017 und 9,10 Euro ab November 2017. Für Branchen ohne Einigung wie Systemgastronomie und Einzelhandel gelten 8,50 Euro ab Januar. Für Zeitungszusteller ist der Anstieg gesetzlich gestaffelt, 2017 erhalten auch sie 8,50 Euro. Schluss ist auch mit der "Generation Praktikum". Nur noch studienbegleitende Praktika bis zu drei Monate können unter Mindestlohn bezahlt werden.

Regina Richter geht im März in Rente, bis Oktober wird sie eine Kollegin vertreten und so am Ende ihres Berufslebens noch in den Genuss des Mindestlohns kommen. Sie ist für ver.di Mitglied der Verhandlungskommission auf Landes- und Bundesebene und kämpft dafür, dass Kollegen künftig besser bezahlt werden, als sie früher. "Ich will etwas bewegen", sagt sie. Zwar könne man mit 8,50 Euro keine großen Sprünge machen. Aber der Gang zum Amt bleibe Friseuren künftig erspart. Zudem wird eine Kommission regelmäßig über Erhöhungen des gesetzlichen Mindestlohns entscheiden.

 

Interview mit Sigmar Gabriel zum Mindestlohn

Autor*in
Yvonne Holl

ist Redakteurin für Politik und Wirtschaft.

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