Inland

Elementare Kriechströme

von ohne Autor · 30. Mai 2009
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Herr Schlögel, Sie sind in dem schwäbischen Örtchen Hawangen bei Memmingen aufgewachsen. Von dort führte Sie jeder Schritt weiter nach Osten: Sie studierten in Berlin, forschten in Leningrad und Moskau und arbeiteten in Budapest. Woher kommt Ihr Interesse für Osteuropa?

Auf dem Hof meiner Familie waren nach dem Krieg Flüchtlinge einquartiert. Ich wuchs Wand an Wand mit drei Familien aus dem Osten auf. Die kamen aus Mähren, aus der Gegend von Karlsbad und eine aus der Gegend von Breslau, Schlesien.

Wenn Sie sich heute noch an deren Herkunft erinnern, müssen die Sie wirklich nachhaltig beeindruckt haben.

Für mich waren diese Flüchtlinge das urbane Element im Dorf und sehr interessant als Kind.

Dann war ich auf einer Schule in Bayern, in einem Internat der Benediktiner, wo man Russisch lernen konnte. Eigentlich gab's Russisch damals nur in Westberlin. Aber im Kloster, zu dem die Schule gehörte, war nach dem Krieg ein Flüchtling hängen geblieben. Dank ihm konnte man nach Latein, Griechisch, Französisch auch Russisch lernen. Das habe ich gemacht.

Wohin führte ihre erste Reise in den Osten?

Mitte der 60er Jahre bin ich mit einem Klassenkameraden nach Prag gefahren. Das war wirklich mein großes Erlebnis. Denn dort habe ich zum ersten Mal eine große unversehrte Stadt gesehen, eine - äußerlich jedenfalls - vollständig erhaltene europäische Stadt. Großartig.

Inzwischen haben Sie viele andere Orte gesehen. Haben Sie einen Lieblingsplatz in Europa?

Wenn ich irgendwann mal emigrieren müsste, würde ich nach Litauen gehen. Die Haine und Flure gefallen mir, das Kleinteilige und Anmutige des Landes. Aber auch, dass man unglaublich nah an der europäischen städtischen Kultur ist, in einer sehr interessanten und gemischten und freilich auch im Weltkrieg verwüsteten Gegend.

Und die Menschen sprechen Polnisch und Russisch und manchmal auch Deutsch, sie sind irgendwie offen. Das ist anders als in Estland, wo man das Russische heute meidet. Also, für mich ein sehr angenehmes Land. Ich fühle mich dort sehr wohl.

Ich muss aber zugeben, dass für mich eigentlich immer der Ort, an dem ich gerade bin, der spannendste ist. Jeder neue Ort ist faszinierend, wenn man sich auf ihn einlässt. Denn überall sind Spuren, die man sehen und analysieren kann.

Sie haben aus dieser Art der Orts-Betrachtung eine Methodik gemacht.

Jeder bewohnte Platz hat viele Schichten und Ablagerungen. Fast jedes Detail ist irgendwie aussagekräftig. Ob das die Treppenhäuser sind, das Katzenkopfpflaster, Architekturen, Parks oder ein Industriegelände, das früher mal ein Friedhof war…

Mit der Zeit entwickelt sich ein Sinn dafür, wird diese ganze Oberfläche, die man sieht, irgendwie durchsichtig. Wenn das anfängt, dann beginnt selbst der langweiligste Ort plötzlich zu sprechen.

Die Teilung Deutschlands und Europas haben Sie einmal als "Auflösung der Mitte" beschrieben. Gibt es eine Mitte Europas, ein Zentrum?

Es gibt Verdichtungsräume in denen sich eine bestimmte Geschichte ereignet.
Zur Geschichte des mittleren Europa gehört die Erfahrung doppelter Herrschaft im 20. Jahrhundert, durch den Nationalsozialismus, aber auch durch den Stalinismus und die sowjetische Form der Herrschaft. Das ist im Leben von zwei Generationen eine feste Tatsache, eine Lebenserfahrung, eine einschneidende Erfahrung gewesen, die anderswo nicht gemacht worden ist.

Über die Jahrhunderte gab es verschiedene Entwicklungszentren oder dynamische Zentren. Im 13. bis 15. Jahrhundert spielte die Musik in Oberitalien. Im 17. und 18. Jahrhundert waren die europäischen Großmächte Schweden und die polnisch-litauische Doppelmonarchie Tonangebend. So verlagerte sich das Zentrum Europas immer wieder.

Die Ursachen waren verschieden. Manchmal waren Regionen im Aufbruch. Andere wurden einfach aus der Geschichte herausgeschleudert. So erging es Deutschland und vor allem Berlin. Eine Stadt, die um 1914 oder auch noch in den 1920er Jahren ein Zentrum war, wo ausgehandelt wurde, was die Moderne sein kann oder sein könnte, war plötzlich von der Bildfläche verschwunden.

Aber Berlin hat sich relativ schnell wieder entwickelt, oder?

Man merkt, wie die Stadt wieder zu Kräften kommt. Es ist aber immer noch eine Phase der Erholung, des Inordnungbringens. Regeneration von Städten ist Generationsgeschichte. Die Stadt bringt sich wieder in Form. Berlin entwickelt sich sehr ruhig, sehr ordentlich, sehr kontrolliert.

Dasklingt, als hätten Sie einen Vergleich im Kopf?

Ja, das ist wahr. Ich denke an die Explosion des neuen Warschau. Wenn Sie heute nach Warschau kommen und diese Skyline sehen, ist das atemberaubend. Dort wurde Frankfurt/Main in 20 Jahren nachgebaut. Die Stadt vibriert, sie ist voll von Leuten, die etwas bewegen.

Entwickelt sich da ein neues Zentrum?

Ich würde sagen, dort gab es in kurzer Zeit einen ungeheuer kraftvollen Schub. Ebenso in Moskau. Ich bin ziemlich oft dort und wundere mich jedes Mal aufs Neue, dass die Stadt wieder einen Satz gemacht hat.

Zwar stehen im Moment die Kräne still, aber was in den letzten 20 Jahren in dieser 12- bis 14-Millionenstadt passiert ist, ist wirklich unglaublich. Das drückt sich aus in der Skyline, in der Internationalisierung, auch in einem Kollaps des Menschenverkehrs. Die Stadt kommt einfach nicht mehr nach, funktioniert aber trotzdem. Wirklich unglaublich ist, dass die Stadt in so kurzer Zeit eine so radikale Umgestaltung bewältigt hat, ohne dass der Prozess außer Kontrolle geraten ist.

Wenn Sie eine Zustandsbeschreibung abgeben sollten, wie steht es derzeit um Europa?

Ich bin insgeheim zuversichtlich. Ich halte diesen Kontinent für sehr stark. Für ausschlaggebend halte ich etwas, das ich Kriechströme nenne, all jene Kräfte, die unentwegt am Werk sind und diesen Kontinent zusammenführen, zusammenfügen, zusammenbasteln und damit die Intaktheit und Routinen des Alltagsleben gewährleisten.

Welche sind das?

Ich meine den Verkehr, die Lkw-Fahrer, die Putzfrauen, die Arbeitsmigranten. Ich meine die Spediteure. Und natürlich sind da auch die Studenten, die inzwischen hin und her reisen zwischen Frankfurt und Breslau und Krakau. Die wissen überhaupt nicht, was Grenze ist oder war.

Ich habe diese Bewegung immer in starkem Kontrast zu den alarmistischen Signalen gesehen, die immer auftauchten, wenn ein Referendum nicht funktioniert hat, wenn ein Verfassungsentwurf nicht akzeptiert wurde. Ich halte diese Geschichte mit dem Verfassungsentwurf nicht für so entscheidend. Dieses Europa hängt nicht daran, ob es diese Verfassung gibt. Ich vertraue mehr den elementaren Kriechströmen.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion waren es wirklich Millionen Menschen, die aus Eigeninitiative den wirtschaftlichen Zusammenhang aufrecht erhalten haben, indem sie beispielsweise zweimal im Monat eine Reise gemacht haben von Minsk nach Istanbul oder von St. Petersburg nach Helsinki.

Um Waren zu verschieben.

Ja, es wurde gekauft, es wurde transportiert und dann wieder verkauft. Familienväter konnten - eine Zeitlang wenigstens - nicht mehr in ihren Berufen als Ingenieur oder Lehrer arbeiten oder verdienten nicht mehr genug. Dann fuhren sie los. Es war der Bruch ihrer Lebensplanung, eine Nothandlung.

Die haben das aber gemacht und haben etwas Unglaubliches damit erreicht. Sie haben erstens ihre Familien über die Runden gebracht. Sie haben nicht resigniert, sondern sie haben ihr Leben selber in die Hand genommen. Sie haben nicht gewartet, bis ihnen irgendein Subsidium zugute kommt. Sie haben die Welt geöffnet. Ich meine, die sind nicht nur einfach gefahren, sondern sie haben sich umgesehen und zum Teil Sprachen gelernt. Die haben verstanden, wie es in anderen Ländern zugeht.

Wieder ein Vorbild für den Umgang mit Krisen?

Ja, Krisensituationen erfordern immer Hellwachheit, Geistesgegenwart, Zupacken. Sie verlangen den Bruch mit Routinen und die Fähigkeit, sich etwas zuzutrauen, noch mal anzufangen. Ich habe dafür einen Terminus: Krisenbewältigungskompetenz, Chaos-Resistenz.

Dieser Tage wird in Aachen wieder der Karlspreis für Verdienste um die europäische Einigung vergeben. Sie haben dazu einen eigenen Vorschlag.

Ja, ich habe verschiedentlich vorgeschlagen, diesen großen europäischen Busverbund "Euroline" zu ehren, oder Fluggesellschaften wie "Easyjet" oder "Ryanair". Denn Europa ist so sehr verändert worden durch die Billigfliegerei, Billigreiserei, wie wir uns das vor zehn oder 20 Jahren nicht vorstellen konnten.

Weil heute auch der Münchner weiß, wo Vilnius liegt?

Diese Erfahrung, die Erweiterung des Horizonts, ist über das Reisen der Massen von statten gegangen und nicht über politische Pädagogik - obwohl die auch sehr wichtig ist. Über die Oberflächlichkeit von Urlaubs-Begegnungen mache ich mir zwar keine Illusionen, aber es findet eben auch immer eine Erweiterung des Lebens- und Erfahrungshorizonts statt. Zum Teil mit sehr einschneidenden Implikationen und Konsequenzen.

Zum Beispiel?

Es kann passieren, dass jemand nach Riga fährt, dort eine Bekanntschaft macht und sein Leben sich ändert. Das sind nicht so wenige Fälle. Oder dass Leute plötzlich merken, dass die Kurische Nehrung ein unglaublicher Ort ist oder dass man mit dem Bus am Nachmittag in Masuren sein kann.

Oder nehmen sie Siebenbürgen, das ist eine der großartigsten Kulturlandschaften in Europa - mit leer geräumten Städten. Ich wünsche mir, dass diese Städte, Dörfer, Häuser gerettet werden. Das Land ist so schön wie die Toskana oder die Provence.

Fordern Sie uns auf, dort Ferienhäuser zu kaufen?

Ich möchte, dass am Horizont der Europäer Landschaften auftauchen, die es Wert sind, Zuwendung zu erfahren.




Der Historiker und Publizist Karl Schlögel, Jahrgang 1948, ist Professor für Osteuropäische Geschichte an der Europa Universität Viadrina in Frankfurt / Oder. Für sein jüngstes Buch "Terror und Traum. Moskau 1937" wurde er mit dem "Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung" ausgezeichnet. Literatur: Karl Schlögel: Terror und Traum. Moskau 1937 Hanser Verlag, München 2008, 816 Seiten, 29,90 Euro, ISBN-10: 3446230815, ISBN-13: 978-3446230811 Hier bestellen... Karl Schlögel: Die Mitte liegt ostwärts: Europa im Übergang Fischer Taschenbuch Verlag, 252 Seiten, 9,95 Euro, ISBN 978-3-596-16719-7 Hier bestellen... Das Interview erschien in der vorwärts-Ausgabe 6/2009 im Kulturteil "Zeitblende".

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