Die Zahl der Europaskeptiker wächst. Ihr Eindruck: Die EU hat nur noch ökonomische Ziele. Mit welchen sozialpolitischen Instrumenten Europa auch eine soziale Dimension erhalten könnte, darüber diskutierten am Montagabend Experten in der Landesvertretung Nordrhein-Westfalen in Berlin.
Europa sozial zu gestalten ist angesichts der Wirtschaftskrise wichtiger denn je. Die gerade in südlichen Mitgliedsstaaten hohe Jugendarbeitslosigkeit, der Sparzwang in den Krisenländern – sie machen die Krise in Ländern wie Griechenland, Portugal und Spanien direkt spürbar. Doch Abhilfe scheint nicht in Aussicht: „Die Menschen haben den Eindruck, dass Wettbewerbsfähigkeit und ökonomische Leistungsfähigkeit zu den überwölbenden Zielen Europas geworden sind“, kritisierte Angelica Schwall-Düren am Montagabend in Berlin. Die Ministerin für Bundesangelegenheiten, Europa und Medien des Landes NRW (SPD) eröffnete in der Landesvertretung Nordrhein-Westfalen die Veranstaltung „Soziales Europa – konkret!“. Die Frage des Abends: Wie kann Europa sozialpolitisch gestaltet werden?
Der Podiumsdiskussion am Abend waren drei Workshops zu konkreten sozialpolitischen Strategien vorausgegangen, deren Ergebnisse die Experten einzeln vortrugen und anschließend von Vertretern aus Land, Bund und Europäischer Union diskutiert wurden.
1. Eine europaweite Arbeitslosenversicherung
Die europäische Arbeitslosenversicherung ist keine neue Idee, wie der Experte Sebastian Dullien von der Berliner Hochschule für Technik und Wirtschaft eingangs referierte. Die Idee stamme ursprünglich aus den 1970er Jahren, als über die Währungsunion diskutiert worden sei. Konkret handelt es sich dabei um eine europäische Basisversicherung, die beitragsfinanziert ist. Wird ein europäischer Bürger arbeitslos, bezieht er für einen begrenzten Zeitraum beispielsweise 50 Prozent seines Nettoeinkommens aus europäischer Kasse. Liegen die Leistungen in seinem Land höher, erhält er von der nationalen Regierung einen Aufschlag.
Die Idee dahinter ist, auf diese Weise ein einheitlich System zu schaffen, welches Ländern in Krisen hilft. Mit einer solchen Arbeitslosenversicherung müsste beispielsweise Spanien seine Arbeitslosen nicht aus dem nationalen Topf bezahlen und müsste dadurch an anderer Stelle weniger kürzen. Die Kritik daran: Ein solches System könnte falsche Anreize für die Mitgliedstaaten setzen. Denn ihnen werde der Druck genommen, den Arbeitsuchenden Arbeit zu schaffen, wenn sie die Ausgaben nicht mehr selbst tragen müssen. Die Teilnehmer des Workshops kamen deshalb zu dem Ergebnis, dass es noch weiterer Forschung hinsichtlich der möglichen positiven wie negativen Effekte bedürfe, bevor ein solcher Vorschlag in den europäischen Prozess gegeben werden könne. Und auch der Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Jörg Asmussen (SPD), zeigte sich in der anschließenden Diskussion kritisch: „Die Voraussetzungen für eine EU-Arbeitslosenversicherung sind aus meiner Sicht noch nicht gegeben.“ Er ergänzte: „Aber es ist eine Sozialversicherung, die wir im Auge behalten müssen.“
2. Europäische Mindestlöhne
So vielfältig Europa ist, so unterschiedlich sind auch die Mindestlöhne seiner Mitgliedsstaaten. Während einige, vor allem skandinavische Länder auf tarifliche Mindestlöhne bei hoher Tarifgebundenheit setzen, haben andere eine Lohnuntergrenze eingeführt. Mit der Einführung des neuen Mindestlohns in Deutschland wird es hierzulande eine Mischform beider Systeme geben, die so auch in Belgien, der Niederlande und Frankreich praktiziert wird. Bedarf es hier einer Vereinheitlichung, um in allen Mitgliedsstaaten einen Mindeststandard einzuführen?
Wie Claudia Weinkopf vom Institut für Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen vortrug, ergeben sich aufgrund der Unterschiede der Durchschnittslöhne unzählige Probleme. Soll man einen Mindestlohn einführen, der sich prozentual am Durchschnittseinkommen orientiert? Schwierig, liegen die derzeitigen Mindestlöhne in den Mitgliedsstaaten gemessen am Durchschnittseinkommen bei 35 bis hin zu 60 Prozent. Oder brauchen wir – der radikale Vorschlag – einen einheitlichen Mindestlohn in allen Mitgliedsländern? Die dritte Variante: Eine Aufteilung der EU in Ländergruppen mit unterschiedlich hohen Mindestlöhnen.
Wie Weinkopf zudem zu Bedenken gab, böten Mindestlöhne allein keinen hinreichenden Schutz vor dem Niedriglohnsektor. Statt die Art oder Höhe eines Mindestlohns vorzuschreiben, müsse die EU vielmehr den Niedriglohnsektor begrenzen, denn der Mindestlohn allein könne keine soziale Absicherung schaffen, so Weinkopf. Und auch Schwall-Düren warnte: „Es kann nicht sein, dass sich Arbeitnehmer in den Mitgliedstaaten gegeneinander im Niedriglohnsektor ausspielen lassen.“ In Weinkopfs Gruppe kam zudem der Vorschlag auf, eine Orientierung für den Mindestlohn vorzugeben.
3. Jugendarbeitslosigkeit bekämpfen
Ein weiteres wichtiges Thema, das auch im Wahlkampf eine zentrale Rolle spielt, ist die Jugendarbeitslosigkeit, die derzeit im europäischen Durchschnitt bei 22 Prozent liegt. Eine Maßnahme dagegen ist die Einführung der „Jugendgarantie“. Das Programm startete Anfang dieses Jahres und beinhaltet das Versprechen, den Jugendlichen unter 25 Jahren im jeweiligen Mitgliedsstaat innerhalb von vier Monaten ein qualitativ hochwertiges Jobangebot zu machen.
In ihrer Beurteilung des noch sehr jungen Programms wies Erika Metzger von Eurofound darauf hin, dass die hierfür bereitgestellten Mittel vor allem für die Regionen, in denen die Jugendarbeitslosigkeit über 25 Prozent liegt, bei weitem noch nicht ausgereizt seien. Und auch beim Werben Jugendlicher aus anderen Mitgliedsländern sei noch mehr Spielraum. Eine Erfolgsvoraussetzung sei außerdem das Aufbauen von Partnerschaften von Ländern und Regionen in Verbindung mit Wohlfahrtsverbänden, NGOs, aber auch der Verwaltung. Auch die Qualität der Jobangebote und der Ausbildungen müsse man im Auge behalten, so Metzger.
„Eine Herkules-Aufgabe“
„Ein schwieriger Punkt sind außerdem die jungen Menschen, die bereits aufgegeben haben, die gar nicht erst zum Arbeitsamt gehen“, ergänzte Max Uebe aus der Generaldirektion Beschäftigung, Soziales und Integration der Europäischen Kommission. „Solch langfristige, strukturelle Probleme anzugehen ist eine Herkules-Aufgabe“, gab er zu Bedenken. Wie wichtig es ist, sich gerade um solche Jugendliche zu bemühen, verdeutlichte Schwall-Düren: „Was bedeutet es, wenn Jugendliche zehn Jahre lang keine Perspektive haben? Sie werden den Rattenfängern auf den Leim gehen. Hier müssen wir handeln“, warnte sie.
Ob diese strukturellen Probleme weiter angegangen werden, wird sich in der neuen Legislaturperiode zeigen. Schwall-Düren zeigte sich diesbezüglich optimistisch: „Wir werden eine neue Kommission haben und damit auch die Chance, neue Maßnahmen für ein sozialeres Europa einzubringen.“
ist freie Journalistin in Berlin. Von 2011 bis 2013 hat sie beim vorwärts volontiert.