Inland

Ein Hauch von Anarchie

von Uwe-Karsten Heye · 1. Juli 2010
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Wahlweise wurde darüber gestritten, ob das nun eine "Ohrfeige" für sie gewesen sei oder - weniger gewalttätig - ein "Denkzettel". Wie auch immer. Die Liebesheirat der schwarz-gelben Turteltauben hat einen kräftigen, ihre Leidenschaft weiter abkühlenden Dämpfer bekommen. Jetzt hält nur noch der zerknüllte Ehevertrag die Koalitionäre beieinander und die weiter dramatisch absinkende Popularität des Pärchens Merkel/Westerwelle. Diese verhindert jede Bereitschaft zu Neuwahlen. Also bleiben sie aneinander gekettet, und kein Wulff wird an der schlechten Stimmung etwas ändern. Zumal er selbst in sein Amt eher gestolpert ist. Ein aufrechter Gang sieht anders aus.

Sieger in diesem Wettbewerb ist der gefühlte Bundespräsident Joachim Gauck, der zugleich dafür sorgte, dass nicht nur im weltweiten Netz so spontane Begeisterung für eine Graswurzelbewegung in Gang kam, die für Gauck eintrat und die vor allem die Bundesversammlung einlud, die Wahl zwischen den beiden Kandidaten ernst zu nehmen. Zugleich trug sie dazu bei, unser von Politikverdrossenheit ausgetrocknetes demokratisches Gemeinwesen zu beleben.

Drei Wahlgänge und schließlich Christian Wulff

Ein furioses Bekenntnis zu diesem Kandidaten ist das nicht. Er wird um den Gedanken nicht drumrum kommen, dass es womöglich die Linken waren, denen er sein Amt zu verdanken hat: Wie wäre die Wahl ausgegangen, hätte die Linke sich nicht in eine beschämende Stimmenthaltung geflüchtet?

Das kann niemand wissen. Dass die Linken den Stasi-Beauftragen Gauck auf keinen Fall zu wählen bereit waren, wurde zu einem Bremsweg, der die endgültige Ankunft der Linken in der demokratischen Bundesrepublik erneut vertagte. Sie machte damit auch deutlich, dass die Mehrheit links von der Mitte politisch derzeit leider nicht zu nutzen ist. Rot-Grün hatte mit der Nominierung von Gauck einen Geniestreich abgeliefert, der zwar an den Mehrheiten im Bundestag nichts ändert, aber die ganze Schwäche und Zerrissenheit dieser Koalition offen legte. Schwarz-Gelb hätte auch selbst auf diesen Kandidaten kommen können - und wird an dieser Wahl noch lange zu knabbern haben.

Was uns erwartet, machte der frisch gekürte Bundespräsident schon in seiner ersten Rede klar, als er sich vor allem darüber freute, "mit absoluter Mehrheit" gewählt worden zu sein. Kein Wort mehr über die beiden Niederlagen zuvor. Dass er die Chuzpe hatte, von einer "absolut freien Wahl" zu sprechen, in der jeder bei der Stimmabgabe nur seinem Gewissen verantwortlich gewesen sei, war eindrucksvoll. Der Gruppendruck in der Unionsfraktion war so offenkundig, auch wie über die "Abweichler" geredet wurde, als ob wir es mit einem autoritären Staatsverständnis zu hätten. Von "Heckenschützen" war die Rede, die sich nicht aus der Deckung getraut hätten. Wer seinem Gewissen folgen wollte, hatte also einiges auszuhalten.

Drei Abstimmungen immerhin könnten verhindert haben, dass nun erneut über die Direktwahl des Bundespräsidenten eine uferlose und am Ende ergebnislose Debatte geführt wird. Schwarz-Gelb kann auf einen willfährigen Präsidenten hoffen, der sich in die kontroversen Themen nicht einmischen dürfte, vor allem da nicht, wo mit der Verfassung gespielt wird, wie bei der Verlängerung der Laufzeiten für die Atommeiler. Es wird interessant sein zu verfolgen, wie der Versuch ausgeht, bei dieser Entscheidung den Bundesrat auszusparen und wie der Präsident sich dabei verhält.

Autor*in
Uwe-Karsten Heye

War vorwärts-Chefredakteur von 2006-2010 und ehemaliger Regierungssprecher der Bundesregierung.

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