Präsident Nicolas Sarkozy drängte die EU-Kommission in Brüssel, vor der erwarteten Welle der Nordafrikaner das Schengener EU-Abkommen (Wegfall der Grenzkontrollen) zeitweise
auszusetzen, unter anderem mit dem Hinweis, man habe genug Ausländer im Land. Das sei falsch, kritisiert die angesehene Wirtschaftszeitung "Les Echos": Die Einwanderung explodiere nicht. Sie
drücke auch nicht auf die Sozialhaushalte. Die zugewanderten Menschen würden die Zahl von 100.000 im Jahr nicht übersteigen. Ihr Beitrag zur Renten- und Gesundheitsvorsorge ist wegen ihrer
Jugend positiv! Vor einer Verurteilung solle man endlich etwa nachdenken!
Dezidiert hat sich - ein erstaunlicher Vorgang wegen der politisch-ökonomischen Nähe zur konservativen Regierung - die Präsidentin des französischen Unternehmerverbandes MEDEF, Laurence
Parisot, geäußert. Eine Einschränkung des legalen Ausländerzugangs werde die Arbeitslosigkeit nicht erhöhen: Nordafrikaner akzeptierten eher "unterbezahlte und unsichere Stellen als
einheimische französische Arbeitssuchende".
Zuwanderung ist moderat
So zeigt ein Teil der Öffentlichkeit in Frankreich wenig Verständnis für die neue Einwanderungspolitik der Regierung, weil sie die bisherigen Regelungen auf den Kopf stellt. "Les Echos"
spricht von einer Wende um 180 Grad. Die Fakten: Noch im letzten Jahr brachte Staatschef Nicolas Sarkozy die Formel einer "ausgewählten Einwanderung" (l´immigration choisi) in die Debatte. In
Klarschrift: Vorrang für Arbeitskräfte für die Bereiche Bauwirtschaft, Gaststätten- und Hotelgewerbe sowie für die Gemeindearbeit. Im Vergleich mit anderen Ländern ist die Zuwanderung in
Frankreich moderat: Norwegen, Italien und Spanien, so präzisiert die führende Wirtschaftszeitung, nehmen zweimal mehr Ausländer auf. George Lemaitre, Spezialist der Organisation für
Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), sagt: "Frankreich gehört zu den Ländern, wo die Einwanderung am niedrigsten ist".
Auch der von den Franzosen heftig kritisierte Bemerkung des Innenministers, er habe viele Menschen getroffen, die sich zuhause einfach nicht mehr wohlfühlen", widersprechen Fachleute: Ein
solches Gefühl könnten die Landsleute allenfalls in Wohngebieten haben, wo Ausländer konzentriert zusammenleben. Der Chef des Obersten Integrationsrates" ("Haut Conseil à l´Integration"),
Patrick Gaubert, meint: Nur ein Einwanderer von fünf lebt in einer sensiblen Zone".
Ausländer belasten die Sozialkassen, klagen dennoch viele Franzosen. Nach der Studie "Migration und sozialer Schutz" stimmt das so nicht. Der Einwanderer ist in der Regel unter 60 Jahre
alt. In den Sozialkassen wiegen die über 60-Jährigen schwerer. Die Anwesenheit junger ausländischer Arbeitskräfte sei folglich eher positiv zu bewerten, weil fast alle aktiv seien und
Sozialabgaben leisteten. Ein anderer Spezialist, Lionel Ragot, ebenfalls ein Verfasser der Studie, resümiert: Komme es in Frankreich zu einem Einwandererstopp, würde in Frankreich das
Sozialbudget von heute drei Prozent des Bruttosozialproduktes auf über fünf Prozent steigen.
Ausländer federn Krise ab
Ob Minister Guéant seine Drosselungspolitik durchzieht ist vor diesem Hintergrund fraglich. Er riskiert Spannungen auf dem französischen Arbeitsmarkt, da es einen Engpass wegen fehlender
junger Kräfte geben könnte. Konzerne halten sich in dem Falle nicht zurück, kritische Anmerkungen zu machen, wenn qualifizierte Arbeitskräfte aus dem Ausland nicht mehr zu finden wären. Als
Konsequenzen sehen Fachleute die Entwicklung von Schwarzarbeit und illegale Einwanderung. Die schwere Krise, geben die Sozialexperten Didier Gelot und Claude Minni zu bedenken, sei von den
anwesenden Ausländern "abgefedert worden, was den gesamten Arbeitsmarkt betrifft".
Die Argumente der Arbeitsrechtler und Sozialfachleute können die Rechtsradikalen der Partei "Front National" nicht so einfach vom Tisch wischen. "Les Echos": Der Ausländer diene wenig zum
Buhmann der Grande Nation. Er plündere als Sozialschmarotzer, so die Extremisten von rechts, die Staatskassen nicht aus. Sarkozys frühere Politik, die Aufnahme junger jobsuchender Arbeitskräfte
von den Bedürfnissen der Wirtschaft abhängig zu machen, ist weitgehend akzeptiertworden. Jetzt die Grenzen wegen nordafrikanischen Arbeiter komplett abzuriegeln sei, wie einige Studien
ausweisen, betriebsblind, kurzsichtig und kontraproduktiv.
ist Auslandskorrespondent in Frankreich für verschiedene Tageszeitungen und Autor mehrerer politischer Bücher, u. a. „Willy Brandt – ein politisches Porträt“ (1969).