„Die Integration der Flüchtlinge wird eine immense Herausforderung.“
Nach langem Ringen hat der Bund den Ländern Ende September deutlich mehr Unterstützung bei der Versorgung der Flüchtlinge zugesagt. Sind Sie mit den Ergebnissen des Flüchtlingsgipfels zufrieden?
Sehr. Die SPD hat sich auf ganzer Linie durchgesetzt. Seit über einem Jahr fordern wir, die Länder und Kommunen zu entlasten, die Verfahren zu beschleunigen und notwendige Integrationsmaßnahmen zu starten. Wir haben dafür gesorgt, dass jetzt endlich gehandelt wird: Länder und Kommunen erhalten 2015 und 2016 mehr als vier Milliarden Euro zusätzlich. Steigen die Flüchtlingszahlen, steigt die Entlastung. Und wir haben gegen großen Widerstand durchgesetzt, dass wir sozialen Wohnraum für alle bauen – nicht nur für Flüchtlinge. Dafür mobilisiert der Bund zusätzliche 500 Millionen Euro jährlich. Nicht nur für Flüchtlingsunterkünfte, sondern für alle, die auf bezahlbare Mieten angewiesen sind. Zudem beteiligt sich der Bund an der Versorgung unbegleiteter Minderjähriger, und es gibt mehr Geld für Sprachkurse. Und die frei werdenden Mittel aus dem gestoppten Betreuungsgeld gehen an die Länder für eine bessere Kinderbetreuung. Das alles sind unsere Erfolge, auf die wir stolz sein können.
Vor 25 Jahren wurde Deutschland über Nacht ein anderes Land. Steht uns ein Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung mit der Ankunft von bis zu einer Million Flüchtlingen in diesem Jahr ein ähnlicher Wandel bevor?
Wir Deutschen haben vor 25 Jahren mit Zuversicht die Herausforderungen der Wiedervereinigung angenommen. Es ist zusammengewachsen, was zusammengehörte. Die Integration der Flüchtlinge wird eine immense Herausforderung. Wir brauchen jetzt die gleiche Zuversicht und dazu den notwendigen Realismus. Zuversicht, weil Deutschland ein starkes und mitfühlendes Land ist, das diese Aufgabe gut anpacken wird. Und Realismus, weil wir die Herausforderungen nicht kleinreden sollten. Es wird auch Probleme und Schwierigkeiten geben. Und Deutschland kann vielen Menschen eine neue Heimat bieten, aber nicht allen.
Was meinen Sie damit?
Die Frage, wer Schutz braucht und wer nicht, wird in einem fairen Verfahren auf der Grundlage unseres Grundgesetzes entschieden. Am Grundrecht auf Asyl wird nicht gerüttelt. Aber wer keine Bleibeperspektive hat, muss Deutschland verlassen. Deshalb haben wir uns entschieden, dass auch Albanien, Kosovo und Montenegro zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt werden. Wir wollen unmissverständlich klarmachen: Diese Menschen müssen ausreisen. Viele wollen nach Deutschland, weil sie eine wirtschaftliche Perspektive für sich und ihre Familien suchen. Nicht Asyl, sondern Ausbildung und Arbeit ist ihr Ziel. Für sie wollen wir die Möglichkeiten der legalen Arbeitsmigration verbessern.
Für diejenigen, die bei uns bleiben, ist Integration das Zauberwort. Was verlangt sie von den Schutzsuchenden?
Wir müssen so etwas wie einen offensiven Liberalismus entwickeln. Damit meine ich, dass wir denen, die zu uns kommen, auch erklären müssen, in welches Land sie kommen. Integration heißt nicht nur Sprache und Beruf lernen, sondern auch lernen: Was ist das eigentlich für ein Land, in das wir kommen. Deutschland ist kein beliebiges Land. Wer hierher kommt, muss wissen, wie die Kultur des Zusammenlebens bei uns ist. Es gibt eine Kultur von Freiheit und Verantwortung, von Rechten und Pflichten, die wir nicht aufgeben wollen. Die Menschen, die zu uns kommen, müssen die Spielregeln unseres Zusammenlebens kennen. Manche nennen das Leitkultur. Ich bin überzeugt: Die ersten 20 Artikel unserer Verfassung sind diese Leitkultur. Mehr brauchen wir nicht.
Welche Prinzipien stehen dahinter?
Niemand ist gezwungen, wenn er nach Deutschland kommt, seine Religion zu wechseln, sein Privatleben zu verändern. Aber die Prinzipien unserer demokratischen Gesellschaft gelten für jeden. Für alle, die hier sind und für alle, die kommen. Dass bei uns Kirche und Staat getrennt sind, dass Männer und Frauen gleiche Rechte haben, dass bei uns Homosexualität nichts Unnormales ist, dass die Lebenspartnerschaften frei gewählt werden können, dass wir ein Land sind mit Meinungsfreiheit, die auch Kritik an Religion einschließt oder dass wir keine Toleranz bei Antisemitismus zeigen, das alles sind Prinzipien, die wir erklären müssen – aber deren Akzeptanz wir von denen, die zu uns kommen, auch erwarten. Auch bei der Integration gilt: fördern und fordern.
Wie soll das konkret aussehen?
Ich glaube, dass unsere Migrationsverbände und die Menschen mit Migrationserfahrungen in Deutschland uns sehr dabei helfen können. Sie sind die besten Kulturdolmetscher. Besonders die Muslime unter ihnen. Wir brauchen jetzt ihre Hilfe. Sie sollen uns sagen, was wir früher falsch gemacht haben bei der Integration. Sie können einen sehr großen Beitrag leisten, unsere gesellschaftlichen Prinzipien an die neu zu uns Kommenden zu vermitteln.
Die Welle der Hilfsbereitschaft ist seit Monaten riesengroß. Haben Sie Sorge, dass die Stimmung kippen könnte?
Ich habe von Anfang an gesagt, dass es in Deutschland auch Menschen geben wird, die Angst haben. Hier geht es um materielle, aber auch um kulturelle Ängste, um Überfremdungsängste. Das Wichtigste, das wir jetzt tun müssen, ist, dass jeder darüber in Deutschland offen reden darf. Wir Demokraten müssen die Ansprechpartner derjenigen sein, die Sorgen haben, die Ängste haben. Es darf nicht der Eindruck entstehen, über solche Sorgen darf man nicht reden. Sonst wird sich Druck aufbauen, der sich meistens über die falschen Parteien entlädt. In der Regel bei Rechtsradikalen. Deswegen müssen wir offen reden, aber ohne Ressentiments. Wir müssen für Sicherheit in unserer Gesellschaft sorgen und wir müssen verhindern, dass die einheimische Bevölkerung gegen die Flüchtlinge ausgespielt wird oder umgekehrt.
Kann es überhaupt eine Lösung ohne die EU geben?
Nein. Deutschland ist stark und kann viel leisten, aber Europa muss jetzt mehr tun. Es ist gut, dass die faire Verteilung von 120 000 Flüchtlingen in der EU mit Mehrheitsbeschluss durchgesetzt wurde. Aber das reicht natürlich bei Weitem nicht. Wir müssen auf faire Quoten bei der Verteilung der Menschen, die nach Europa kommen, drängen. Die Einrichtung sogenannter „Hotspots“, also von Aufnahme- und Registrierungsstellen in Griechenland und Italien, wo viele Flüchtlinge das erste Mal die EU betreten, ist jetzt immerhin beschlossen.
Muss die Hilfe nicht in den Herkunftsländern beginnen?
Eine wirklich dauerhafte Lösung der Flüchtlingskrise ist nur denkbar, wenn wir neue große Anstrengungen zur Bekämpfung der Fluchtursachen unternehmen. Flucht ist eine Folge von Krieg, Bürgerkrieg, Staatszerfall und Armut. Menschen fliehen, weil sie um ihr Leben und um das Wohl ihrer Kinder fürchten, weil sie keine Hoffnung mehr haben. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten setzen uns weiter mit aller politischen Kraft dafür ein, dass die Herkunftsländer stabilisiert werden, dass die Menschen dort erträgliche Lebensbedingungen erhalten und wieder Hoffnung auf eine bessere Zukunft in der eigenen Heimat haben können. Auch die Transitländer und die Länder im Nahen Osten, die Millionen syrischer Flüchtlinge aufgenommen haben, brauchen Unterstützung. Wir haben die Gelder aufgestockt, die den UN-Flüchtlingshilfswerken zur Verfügung stehen. Wir können hier mit vergleichsweise wenig Geld sehr viele Menschen erreichen. Nahrungsmittel, medizinische Versorgung und Schulen für die Kinder müssen sicher finanziert sein. Wir fordern aber auch die USA und die Golfstaaten unmissverständlich auf, ihre Anstrengungen zu erhöhen.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.