Daniel Reichert will die Demokratie revolutionieren. Der Vorsitzende des Vereins "Liquid Democracy" steht am Rednerpult der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin und versucht, den Zuhörern das Prinzip der "flüssigen Demokratie" zu erklären. Kein leichtes Unterfangen, schon gar nicht mit einem Zeitlimit von 15 Minuten. Reichert spricht von Zyklen, in denen politische Entscheidungsprozesse ablaufen, von "Delegated Voting" und von der Software "Adhocracy". Am Ende des Kurzvortrags wirken einige Zuhörer verwirrt.
Reichert: Wir wollen Demokratie weitertreiben
Im Kern zielt das Konzept der Liquid Democracy darauf, alle Bürger online an politischen Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Sie können gemeinsam Beschlüsse formulieren und über diese abstimmen. Möglich werden soll dies durch eine Software, die alle Diskussionen in konstruktive Bahnen lenkt.
"Wir überlegen: wie kann man die Idee der Demokratie weitertreiben?", erklärt Reichert das Ziel seines Vereins. Er biete keine dogmatischen Lösungen, sondern befasse sich mit "Ideen, die in Bewegung sind". Reichert will die neuen Möglichkeiten nutzen, die das Internet für demokratische Prozesse bietet. Und er will Politik transparenter machen, aus den Hinterzimmern herausholen.
"Transparenz ist zum Modewort des politischen Diskurses geworden", sagt Christian Humborg, Geschäftsführer des Vereins "Transparency International Deutschland". Immer dann, wenn etwas schief laufe, forderten Politiker Transparenz. Doch in der Praxis blieben die Parteien meist hinter ihren eigenen Ansprüchen zurück.
Transparenz und Streitkultur
Dürfen Politiker vertrauliche Gespräche führen? Müssen sie alle Protokolle und Daten öffentlich machen? Totale Transparenz sei gar nicht erstrebenswert, gibt Björn Böhning (SPD) zu bedenken. "Es gibt in der Politik auch Bereiche, die eine gewisse Vertraulichkeit brauchen". Dabei gilt das Mitglied des SPD-Parteivorstands in seiner Partei als Vorreiter für mehr Transparenz. Sie könne die Streitkultur fördern, argumentiert Böhning. "Die Politik muss lernen, dass Politik wieder begründet werden muss", sagt er. Als Beispiel führt er die mangelnden öffentlichen Debatten über den Euro-Rettungsschirm an. Über solch ein wichtiges Thema müssten öffentlich Argumente ausgetauscht werden. Daher sei es auch nicht schlimm, wenn eine Partei sich zwei Monate lang darüber streite, statt nach außen hin Geschlossenheit zu demonstrieren.
Ähnlich sieht es der Blogger Michael Seemann. Sobald Öffentlichkeit dazu führe, dass Politiker brave Diskussionspartner spielen, sei sie sinnlos. Über öffentliche Parteitage redet er sich fast in Rage: "Bundesparteitage sind Spektakel für die Medien: ,Hallo, wir sind uns einigʻ." Dort gehe es darum, sich nicht angreifbar zu machen. Politiker produzierten Worthülsen, und die Delegierten nickten alles ab.
Den Medien weist Seemann eine Mitschuld zu. Er verweist auf Diskussionen in der Berliner Piratenfraktion, die von der Fraktion öffentlich gemacht wurden. Die Folge waren negative Berichte in der Presse. "Nicht jeder Antrag sollte gleich skandalisiert werden", meint Seemann.
Internet-Demokratie: eine Diktatur der Aktiven?
Die Piratenpartei veröffentlicht ihre internen Debatten in der Regel im Internet. Auch eine Liquid Democracy-Software setzt die Partei ein. Kritiker werden ihr deshalb vor, Teile der Bevölkerung von ihren Entscheidungsprozessen auszuschließen: Ältere, Menschen ohne Internetanschluss und alle, denen die Zeit fehlt, sich online zu engagieren. Einen Schwachpunkt gesteht selbst Daniel Reichert ein: "Liquid Democracy ist zeitaufwendig für die Nutzer. Sie müssen sich anmelden, sich in die Software und in die Themen einarbeiten", erklärt er.
Dennoch will Michael Seemann das Argument der Kritiker nicht gelten lassen. "Demokratie war schon immer eine Diktatur der Aktiven", entgegnet er. Auch in eine klassische Partei müsse man erst eintreten und sich in ein Amt hocharbeiten, um politisch mitgestalten zu können. Den Einwand, dass das Internet nicht Jedem zugänglich sei, weist er ebenfalls zurück: Zwar gebe es noch eine digitale Spaltung der Gesellschaft. Doch die Zahl der Internetnutzer wachse, und es sei nur eine Frage der Zeit, bisauch die Senioren das Internet für sich entdeckt haben.
arbeitet als Redakteur für die DEMO – die sozialdemokratische Fachzeitschrift für Kommunalpolitik.