"Alternativlos" ist das Unwort des Jahres geworden. Es hätte Wort des Jahres werden sollen. Alternativlosigkeit ist das Merkmal nicht einer fremden politischen Unkultur, sondern unserer politischen Kultur. Zum Euro gibt es keine Alternative. Denn ohne Euro gibt es keine Europäische Union, zu der es keine Alternative gibt, weil Deutschland sich ohne sie in der Welt der Globalisierung, zu der es keine Alternative gibt, nicht behaupten könnte.
Alternativen ohne Bedeutung
Weil es zur Globalisierung und zur Europäischen Union keine Alternativen gibt, gibt es auch keine Alternativen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik, die Deutschland für den globalen Wettbewerb tauglich macht, zur Bildungspolitik im Zeichen von Pisa und Bologna, zur Ökonomisierung der Wissenschaft, der Kultur und der Medien. Es gab keine Alternative zur Privatisierung von Post und Bahn. Auch zu Stuttgart 21 gibt es keine Alternative, weil es um die Wettbewerbsfähigkeit im europäischen Streckennetz geht, zu der es keine Alternative gibt.
Manchmal gibt es Alternativen: ob die Präimplantationsdiagnostik selten erlaubt sein soll oder nie, ob der Regelsatz um fünf Euro erhöht wird oder um acht, ob die Sicherheitsorgane des Bundes organisatorisch zusammengeführt werden oder getrennt bleiben. Es gibt auch immer Betroffene, für die von Bedeutung ist, ob die Entscheidung für die eine oder die andere Alternative fällt. Aber gesamtgesellschaftlich sind die Alternativen, die es gibt, ohne Bedeutung.
Echte Diskussionen gibt es nicht
Ist ein Problem von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung, gibt es keine Alternativen. Dann wird zwar in den Medien über Alternativen geschrieben, über die Möglichkeit einer kleineren Eurozone oder einer Schule ohne Pisa oder einer Universität ohne Bologna oder einer Bahn, die nicht an die Börse, sondern für die Kunden fährt. Aber eine wirkliche Diskussion gibt es nicht, nicht in den Medien und erst recht nicht in der Politik. Im politischen Diskurs stößt die Wut, mit der Bürger und Bürgerinnen auf politische Entscheidungen reagieren, auf Befremden. Aber wo es keine Alternativen gibt, bleiben nur Resignation und Wut.
Vor dem Unabänderlichen kann man entweder resignieren - dies ist die eine Reaktion der Bürger und Bürgerinnen, die sich weniger und weniger an den Wahlen beteiligen, in den Parteien engagieren und für das interessieren, was Bundestag, -rat und -regierung treiben. Oder man kann wütend werden - dies ist die andere Reaktion, die Bürger und Bürgerinnen auf die Straße treibt. Was ist daran befremdlich?
Populismus als Alternative
Wut ist sogar ein Gebot der Selbstachtung, wenn man mit etwas als unabänderlich konfrontiert wird, das nicht unabänderlich ist. Es wird den Bürgern und Bürgerinnen nur als unabänderlich präsentiert. Die Politik hätte Alternativen.
Aber sie müßte die Alternativen herausfinden. Ohne Alternativen ist Politik einfacher. Wo Politik im vorauseilenden Gehorsam den globalen oder europäischen Sachzwängen oder auch der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs gehorcht, muß sie nicht nachdenken und nicht diskutieren und nicht entscheiden. Und was man nicht entscheiden kann, muß man auch nicht verantworten.
Es mag sein, daß es auch ohne Alternativen geht. Mit der Wut der Bürger und Bürgerinnen wird die Polizei fertig, und auch bei schwindendem politischem Interesse und Engagement werden immer noch Abgeordnete gewählt und Regierungen gebildet. Es mag aber auch sein, dass das Erstarken populistischer Parteien in anderen Ländern einer Logik folgt, die auch für Deutschland gilt, wo populistische Parteien bisher nicht zählen. Das Erstarken bedeutet ja nicht einfach, daß zu den vorhandenen demokratischen Parteien weitere demokratische Parteien hinzukommen.
Demokratie braucht Alternativen
Populismus hat das Potential einer Alternative zum demokratischen Gefüge und Prozeß mit seinen Parteien und Koalitionen und Kompromissen, seinen schwerfälligen Gremien und beschwerlichen Verfahren. Populismus ist das Versprechen einer größeren Nähe zwischen Wählern und Gewählten, einfacherer und klarerer politischer Verfahren und eindeutigerer Entscheidungen. Das Erstarken populistischer Kräfte folgt der Logik, dass dann, wenn es in der Demokratie keine Alternativen gibt, Alternativen zur Demokratie attraktiv werden.
Demokratie braucht Alternativen - um ihrer Legitimität, um der Politik und um der Bürger und Bürgerinnen willen. Sie braucht Parteien, die Alternativen entwickeln und den Bürgern und Bürgerinnen mit alternativen Profilen begegnen. Ein paar Euro beim Regelsatz, ein paar Prozent beim Spitzensteuersatz, ein neuer Streit um Schulformen und die alte Forderung nach sozialer Gerechtigkeit genügen nicht.
Bernhard Schlink ist Professor für Rechtswissenschaft und Schriftsteller. Er schrieb den Bestseller "Der Vorleser".