Deutsche Einheit: „Wir wollen keine abgehängten Gebiete.“
Wie ist es um den Stand der Deutschen Einheit 26 Jahre nach der Wiedervereinigung bestellt?
In den vergangenen 26 Jahren ist unglaublich viel erreicht worden. Das gilt etwa für die Bereiche Umweltschutz, Straßenbau und die Lebensqualität im Osten allgemein. Wir haben eine Infrastruktur aufgebaut, die sich sehen lassen kann. In Ostdeutschland haben sich innovative Unternehmen angesiedelt oder sie sind neu entstanden. Aber die Betriebe im Osten sind klein, ihre Wertschöpfung kommt nicht an die großen Dax-Unternehmen heran. Auch das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner liegt in den ostdeutschen Bundesländern noch immer rund 27,5 Prozent unter dem Westdeutschlands. Wir haben also auch in Zukunft noch Einiges zu tun.
Ihre Warnung, der wachsende Rechtsextremismus sei eine ernste Bedrohung für die Entwicklung der östlichen Bundesländer, hat zu teilweise heftigen Reaktionen geführt. Hat Sie das überrascht?
Nein, denn die Debatte, wie man mit dem Rechtsextremismus umgehen soll, hat es schon immer gegeben. Dass wir in Ostdeutschland ein Problem mit Rechtsextremismus haben, sage ich schon seit vielen Jahren. Ich finde,bei einer massiven Zunahme und Häufung rechtsextremer Straftaten im Osten darf man auch nicht schweigen. Wer versucht, das Problem zu verschleiern, hilft niemandem. Klar ist aber auch – und das habe ich auch bei der Vorstellung meines Jahresberichts betont –, dass Rechtsextremismus nicht allein ein ostdeutsches Problem ist. Es ist im Osten nur leider besonders ausgeprägt.
Sie haben auch gesagt, dass die Menschen im Osten „lauter und deutlicher Stellung“ gegen Rechts beziehen sollten. Warum fällt es gerade dort so schwer?
Ich komme aus Thüringen und weiß aus eigenem Erleben, wie schwierig es ist, Gesicht zu zeigen und klar Stellung zu beziehen. Das gilt gerade für kleinere Städte oder auf dem Land, wo jeder jeden kennt. Die überwältigende Mehrheit der Ostdeutschen ist weder fremdenfeindlich noch rechtsextrem. Nur leider ist die Minderheit im Moment sehr lautstark. Deshalb erwarte ich von der Mehrheit, dass sie noch lauter wird. Diejenigen, die sich engagieren, brauchen die Unterstützung von denen, die im Moment noch hinter der Gardine stehen, wenn die Anti-Nazi-Demo vorbeizieht. Mein Appell richtet sich aber auch an die Wirtschaft und an die politischen Akteure. Auch sie sind gefragt, klar Kante gegen Rechts zu zeigen und Initiativen vor Ort zu unterstützen.
Eine große Hoffnung für den Entwicklung Ostdeutschlands setzen Sie gerade in Zuwanderer. Sie sollen Bevölkerungsrückgang und Fachkräftemangel abfangen. Wie geht das zusammen?
Wenn man Integration ernst nimmt und sich den damit verbundenen Problemen offen stellt, kann Zuwanderung eine echte Chance für Ostdeutschland sein – gerade in den Regionen, die von Abwanderung besonders betroffen sind. Die entscheidende Rolle spielen hier die Kommunen, denn Integration kann nur vor Ort gelingen. Deshalb muss der Bund Städte und Gemeinden so gut es geht unterstützen. Deshalb fördert das Bundeswirtschaftsministerium zum Beispiel die sogenannten Willkommenslotsen. Sie helfen insbesondere kleinen und mittleren Unternehmen, Flüchtlinge oder Asylbewerber in den Betrieb zu integrieren. Die Neuankömmlinge werden aber nur in einer Region bleiben und sie als neue Heimat empfinden, wenn sie auf ein Klima stoßen, in dem sie nicht angepöbelt, beleidigt oder gar geschlagen werden. Deshalb muss sich der bisher schweigende Teil der Mehrheit stärker zu Wort melden.
Vor dem Hintergrund der Ergebnisse des aktuellen Einheitsberichts: Ist die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse, die das Grundgesetz für ganz Deutschland fordert, noch ein realistisches Ziel?
Ja, unbedingt! Wir wollen keine abgehängten Gebiete. Der Bund muss sich ganz klar zur Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse bekennen. Dafür brauchen wir auf jeden Fall eine Anschlussförderung, wenn der Solidarpakt II 2019 ausläuft. Strukturschwache Regionen in Ost und West müssen weiter speziell gefördert werden. Den Motor, der gerade angesprungen ist und der einigermaßen zuverlässig läuft, dürfen wir nicht abwürgen. Wir dürfen Ostdeutschland nicht allein lassen, denn das würde zu neuen Enttäuschungen und neuer Erbitterung führen.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.