Inland

Der Schnecke Beine machen

von Die Redaktion · 5. Februar 2011
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"Mit uns zieht die neue Zeit!" Wer will dies alte Lied noch singen, voller Zuversicht und ohne Zweifel? Wo ist der Optimismus geblieben, dass die Zukunft besser sein werde als die Gegenwart? Ein Optimismus, der die SPD stark und erfolgreich gemacht hat: Wie lässt er sich zurückgewinnen? Sigmar Gabriel hat die SPD in die Zukunftswerkstatt geschickt, auf die Suche nach dem "Neuen Fortschritt".

Der Fortschritt, das ist der Bruder der Sozialdemokratie. Im 19. Jahrhundert wollten Sozialdemokraten den Junkerstaat überwinden. Es ist gelungen. Sozialdemokraten forderten gleiche Rechte für alle ein, auch für Arbeiter und für die Frauen: geschafft. Menschliche Arbeitsbedingungen - im Großen und Ganzen: erreicht.

Wenn das kein Fortschritt ist!

In den 1920er Jahren nahmen Sozialdemokraten den Kampf gegen Nationalismus und Militarismus auf, für die Vereinigten Staaten von Europa und einen gebändigten Kapitalismus. Nach zwölf Jahren Terrorherrschaft und einem weiteren Weltkrieg fanden sie dafür endlich auch Verbündete.

In der Bundesrepublik verschafften Sozialdemokraten allen Menschen Zugang zu höherer Bildung. In den 1960er Jahren forderten sie "mehr Demokratie". Sie schufen das moderne Deutschland. Und nebenbei: saubere Luft und sauberes Wasser für alle, symbolisiert im "blauen Himmel über der Ruhr". Im 21. Jahrhundert sind Grenzen gefallen, Europa ist vereint und der Eiserne Vorhang Geschichte. Wenn das kein Fortschritt ist!

Günter Grass hat den Fortschritt eine Schnecke genannt. Nur wer eine Weile weg- und dann wieder hinblickt, kann ihn auf Anhieb erkennen. Zumal nichts Erreichtes von Dauer ist, wenn niemand dafür kämpft. Fortschritt ist nicht gleich Wachstum. Eine ungeregelt wachsende Wirtschaft gleicht einem Garten ohne Gärtner: Er wuchert zu. Die stärksten Pflanzen verdrängen alle anderen. Wer das Fortschritt nennt, muss sich nicht wundern, wenn Menschen am Sinn des Fortschritts zu zweifeln beginnen.

Nicht jede Veränderung ist ein Fortschritt

Dort sind wir heute. Im Zeitalter des grassierenden Zweifels. Wo Technikbegeisterung auf Technikfolgenabschätzung stößt. Wo, wer behauptet, die Rente sei sicher, Lachsalven erntet. Und wo kaum noch jemand glaubt, "dass die Kinder es mal besser haben werden". Reformen sind in den Augen vieler zum Synonym für Einschränkungen, für Rückschritte, für erzwungenen Verzicht geworden. Auch ist vielen Menschen die Hoffnung ganz und gar abhanden gekommen, "die Politik" könne ihr Leben verbessern. Sie halten es im Zweifel für wichtiger, Errungenes zu bewahren - etwa Tarifverträge oder freien Zugang zu Bildung oder den Zusammenhalt Europas -, als vagem Neuem entgegenzufiebern.

Ist das ein Wunder, wenn in ihrer Nachbarschaft städtische Schwimmbäder geschlossen werden, Schulen vergammeln, auf Gehwegen und Bahnsteigen Unkraut wuchert und junge Menschen keine Festanstellung finden, trotz bester Zeugnisse, Praktika und Auslandsaufenthalten? Wer sich einreden lässt, jede Veränderung sei automatisch ein Fortschritt, kann in der Tat am Fortschritt verzweifeln.

Dass auch der technische Wandel zwei Gesichter hat, ist Allgemeinwissen, spätestens seit Tschernobyl. Es ist leicht, zum Fortschrittsskeptiker zu werden, wenn die neue Telefonanlage allenfalls mit Hilfe eines dicken Handbuchs in Betrieb zu setzen ist. Aber technischer Fortschritt macht eben nicht nur Atomkraftwerke und -bomben möglich, sondern auch Energiesparlampen, die Nutzung der Solar- und Windenergie. Wer dagegen ist, Milliarden für einen Bahnhof auszugeben, muss noch lange kein Mobilitätsgegner sein. Im Gegenteil: Vielleicht will er nur Steuergelder lieber in den Güter- und den öffentlichen Nahverkehr investieren.

Gesellschaft kann und muss gestaltet werden

Noch immer, zeigt eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, setzen drei von vier Deutschen auf den technischen und wissenschaftlichen Fortschritt. Wie lässt sich dieser Optimismus auf die Politik übertragen? Wie können Sozialdemokraten - und mit ihnen die Mehrheit der Wähler - die Überzeugung zurückgewinnen, dass sich eine bessere, gerechtere, demokratischere Gesellschaft politisch gestalten lässt? Ja, gestaltet werden muss, wenn sie überhaupt möglich werden soll?

Darüber haben die SPD-Vorstandsgremien Anfang des Jahres in Potsdam beraten; mit Gästen, von denen einige auch in diesem "vorwärts" zu Worte kommen. Die SPD will diese Diskussion in Arbeitskreisen und Werkstätten fortsetzen. Um auf dem Parteitag im Dezember einFortschrittsprogramm beschließen zu können. Ein Programm, dessen Sinn einleuchtet und dessen Ziele greifbar sind. Das der Schnecke, sozusagen, Beine macht.

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