"Ich schoss mit, zunächst auf solche in der Grube liegenden Juden, die noch lebten, dann direkt als Schütze mit Genickschuss." Diese Worte sprach Georg Heuser - angeklagt wegen der Tötung von 30 356 Menschen in der Sowjetunion - während seines Prozesses vor dem Landgericht Koblenz.
Bei einer Razzia im Frühjahr 1942 soll der Ex-Gestapo-Chef von Minsk 60 Juden eigenhändig umgebracht haben. Im Jahr darauf ließ er drei Menschen bei lebendigem Leibe verbrennen. Auch seine Laufbahn nach 1945 sprengt jedes Vorstellungsvermögen: 1958 gipfelt sein erneuter Aufstieg im Polizeidienst in der Ernennung zum Leiter des Landeskriminalamtes Rheinland-Pfalz.
Extrem und beispielhaft
Christina Ullrich macht in ihrer Studie "Ich fühle mich nicht als Mörder" deutlich, dass Heusers Lebensweg zwar extrem, aber dennoch exemplarisch für den Umgang der jungen Bundesrepublik mit dem Personal des Nazi-Staates ist. Ihr geht es weniger darum, die Verbrechen von Heuser und 18 weiteren mittleren Diensträngen von Gestapo und SS, die im von Deutschland besetzten Europa wüteten, zu rekonstruieren.
Im Vordergrund steht die Frage, wie es möglich war, dass diese Männer, die maßgeblich am Völkermord beteiligt waren, nach glimpflich überstandener Entnazifizierung dem neuen Staat als Gesetzeshüter dienen konnten. Wie sie außerdordentlich selbstbewusst und erfolgreich "ihre standesgemäße Rückkehr in die Gesellschaft einforderten".
Damit nicht genug: Als LKA-Chef war Heuser ausgerechnet für die Verfolgung von NS-Verbrechern verantwortlich. Doch auch der einstige SS-Obersturmführer bekam zu spüren, dass sich Ende der 50er-Jahre der Zeitgeist wendete und die Justiz endlich aufwachte.
Seelenlage nach 1945
Was die groben historischen Strukturen betrifft, liefert Ullrichs Buch wenig Neues. Und doch macht ihr auf breitem Quellenmaterial fußender Blick auf Einzelbiografien deutlich, was Umschreibungen wie "Anpassung", "Verdrängung" und "Kontinuität" für das innere Gefüge der jungen Bundesrepublik konkret bedeuteten.
Diese umfassende und vergleichende biografische Perspektive stellt ein Novum in der neueren NS-Täterforschung dar, wenngleich die Untersuchung auf Vorgängerstudien aufbaut. Die Wucht der Erkenntnisse ist erdrückend. Allerdings verlangt die Lektüre ob all der Verästelungen der Lebensläufe, zwischen denen die fast schon kriminalistische Analyse hin und herpendelt, höchste Konzentration.
Ullrichs Blick in die, wenn man so will, Seele(n) jener bleiernen Zeit fördert Erschreckendes und Empörendes zutage. Die Autorin beschreibt, wie die personelle Kontinuität in Polizei und Justiz erst durch die Kontinuität einer pervertierten Kleinbürger-Mentalität ermöglicht wurde: Der unbeirrbare Glaube an das Gute im Menschen, solange er fleißig und ordentlich ist. Oder das Entschuldigen von Gräueltaten mit Befehlsnotstand und anderen angeblichen Zwangslagen des Krieges - alles im Dienste jener Normalität, die die Meisten damals herbeisehnten.
Anschluss durch Tarnung
Heuser und seine Brüder im Geiste erfüllten derlei Erwartungen oder gaukelten sie mit gefälschten Dokumenten vor. Ullrich rekonstruiert neben den späteren Prozessen auch die familiären und freundschaftlichen Beziehungen jener Männer, genau wie die Kontakte untereinander. Die Historikerin zeigt, dass gerade die Solidarität des Umfeldes entscheidend dazu beitrug, dass die Männer sich nach dem Krieg nicht allzu lange mit Arbeitslosigkeit oder Strafverfolgung herumplagen mussten.
Viele kannten sich von gemeinsamen Einsätzen oder der Lagerhaft nach 1945. Schon damals schmiedeten sie gemeinsame Pläne für ein Leben nach dem ausgebliebenen "Endsieg". Dass diese später erfolgreich umgesetzt werden konnten, so weist Ullrich minutiös nach, war einer Mischung aus Konspiration und Loyalität zu verdanken. Zum Beispiel in Form einer wohlwollenden Beurteilung eines früheren "Kameraden" gegenüber dessen künftigem Arbeitgeber. Doch die wichtigste Form der Loyalität blieb die Verschwiegenheit.
Wer die Spuren dieses vielseitigen Schmierstoffes quer durch die westdeutsche Gesellschaft verfolgt, hat manchmal den Eindruck, ein Lehrstück über die Abgründe sozialer Beziehungen zu verfolgen. Umso erhellender sind jene Passagen, die demonstrieren, was passierte, als es mit jenem Korpsgeist vorbei war.
Auch dafür ist der Fall Heuser exemplarisch. Kaum hatte ihn der ehemalige Einsatzgruppenführer Erich Ehrlinger in seinem Prozess belastet, klickten im Juli 1959 auch für Heuser die Handschellen. Freilich hinterlässt das Verfahren gegen ihn einen faden Beigeschmack: Vier Jahre später verurteilt das Landgericht Koblenz den gelernten Kriminalkommissar wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zu Mord und Totschlag zu 15 Jahren Zuchthaus. Im Sommer 1969 befürwortete die Haftanstalt Freiendiez seine frühzeitige Entlassung, denn er sei "kein Krimineller im üblichen Sinne".
Christina Ullrich: "Ich fühl' mich nicht als Mörder" - Die Integration von NS-Tätern in die Nachkriegsgesellschaft, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2011, 355 Seiten, ISBN 978-3-354-23802-6