Inland

Der europäische Patient

von Kai Doering · 20. März 2012

Europa ist in keinem guten Zustand. Die SPD hat deshalb die Reihe „Reden über Deutschland und Europa“ ins Leben gerufen. Den Auftakt machte am Montagabend der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz.

Für Pathos ist Martin Schulz nicht unbedingt bekannt. Der 56-Jährige gelernte Buchhändler und seit Anfang des Jahres Präsident des Europaparlaments ist eher ein Typ rationaler Worte. Doch als Schulz am frühen Montagabend zum Höhepunkt seiner Rede kommt, sind die Menschen, die dicht gedrängt im Atrium des Willy-Brandt-Hauses stehen, mucksmäuschenstill.

Gerade hat Schulz darüber gesprochen, wie sehr es ihn entsetze, „dass es wieder möglich ist, Minderheiten auszugrenzen, gegen Roma zu hetzen und Arbeitnehmer aus Osteuropa zu diskriminieren“, obwohl dieses Denken bereits als überwunden galt. Und dann sagt Schulz zwei Sätze, die Angst machen, weil sie wahr sind: „Niemals hätte ich mir vorstellen können, dass diese lang gebannt geglaubten Dämonen wiederkehren. Doch tumber Nationalismus gewinnt wieder an Boden.“

Repolitisierung der Europa-Debatte

Nein, Europa geht es nicht gut zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Die Wirtschaftskrise befeuert nationale Egoismen, die Bürger verlieren mehr und mehr das Vertrauen in Brüssel. „Der Diskurs über Europa ist zusammengeschrumpft auf das Vokabular der Volkswirte“, sagt Sigmar Gabriel. Der SPD-Vorsitzende hatte deshalb die Idee, eine Gesprächsreihe ins Leben zu rufen, „um die Repolitisierung der Debatte voranzutreiben“. „Reden zu Deutschland und Europa“ lautet der Titel.

Auch Martin Schulz macht in seiner Auftaktrede kein Hehl daraus, dass Europa angeschlagen ist. „Aus der Währungs- und Finanzkrise ist mittlerweile eine Vertrauenskrise geworden“, klagt er. Und obwohl die EU in ihrer über 60-jährigen Geschichte noch nie so sehr gebraucht worden sei wie heute, „ist zum ersten Mal seit ihrer Gründung ein Scheitern zum realistischen Szenario geworden“.

Die Hauptschuldigen hat der Präsident des Europaparlaments in den Hauptstädten des Kontinents ausgemacht. Die Staats- und Regierungschefs seien es, „die sich seit Jahren alle von der EU erzielten Erfolge auf die eigene, die nationale Fahne schreiben und alle Misserfolge Brüssel in die Schuhe schieben“. Hinzu komme, dass sie bei ihren Gipfeln Entscheidungen hinter verschlossenen Türen träfen: „Das Europa dieser anonymen Entscheidungen zerstört das Vertrauen der Menschen in die Demokratie.“

Das Europa der Bürger

Dabei sei ein demokratisches Europa die Lebensversicherung für den Kontinent, denn „nur wenn Menschen nachvollziehen können, von wem, wo, wann, welche Entscheidungen getroffen werden, kann verloren gegangenes Vertrauen in die Politik zurück gewonnen werden“.

Gelinge dies nicht, drohe ein Zerfall Europas in seine Einzelstaaten – und zwar zum Nachteil aller. „Mehr Demokratie geht nur mit mehr Europa“, ist Martin Schulz überzeugt. Die Politik könne ihre Handlungsmacht nur zurückgewinnen, indem sie Souveränität auf europäischer Ebene bündele. „Souveränität, die Nationalstaaten auf die EU übertragen, ist eben nicht verlorene Souveränität, sondern zurück gewonnene Gestaltungsmacht.“

Als positives Beispiel sieht der EU-Parlamentspräsident die europaweite Debatte über das umstrittene ACTA-Abkommen über Urheberrechte. „2,5 Millionen Menschen haben eine Petition an das Europäische Parlament unterschrieben“, berichtet Schulz beeindruckt. Dieses Engagement habe ihm gezeigt, „dass sich das Europäische Parlament immer mehr zum Ort der Debatte über politische Entscheidungen in der EU etabliert“.

Es ist also nicht alles schlecht in Europa, auch wenn es dem Kontinent schon mal besser ging. Doch damit der europäische Patient wieder genest, braucht es den Einsatz vieler Ärzte. Und so schließt Martin Schulz seine Rede mit einem Appell an die – zum großen Teil jungen – Zuhörer im Willy-Brandt-Haus: „Europa ist eine großartige Idee. Aber diese Idee ist unter die Räder gekommen. Ich will, dass wir den Kern dieser Idee wieder finden, ihn putzen und wieder zum Strahlen bringen.“

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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