Inland

"Das Wachstum kommt bei den Menschen nicht an"

von Gero Fischer · 31. Januar 2011
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Was bedeutet für Sie Fortschritt?

Das Problem am Fortschritt ist, dass es ein ziemlich abstrakter Begriff ist. Für mich bedeutet er, dass sich die Gesellschaft immer wieder verständigt, wie sich Rahmenbedingungen verändern und solidarisch vereinbart, wie sie darauf reagiert. Wir leben heute in einer Gesellschaft, in der wir zwar keine materiellen Nöte haben, die aber durchaus von Ungleichheiten und einem Auseinanderdriften von Arm und Reich geprägt ist. Dazu kommen Globalisierung, eine digitale Revolution und Umweltzerstörung. Das sind durchaus neue Phänomene. Sich darauf einzustellen, würde gesellschaftlichen Fortschritt kennzeichnen.

Ist wirtschaftliches Wachstum Ausdruck für gesellschaftlichen Fortschritt?

Es hat lange gegolten, dass Wachstum auch automatisch zu mehr Wohlstand und Fortschritt führt. Das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ist jahrzehntelang gleichgesetzt worden mit mehr Wohlstand in einer Gesellschaft. Es wird jedoch immer deutlicher, dass das nicht mehr zutrifft.

Woran wird das deutlich?

Dieses Wachstum kommt bei den Menschen nicht an. Die Leute fühlen sich irritiert von Aussagen über XXL-Wachstum und dem Versprechen, dass es damit allen besser gehen wird. Das entspricht nicht ihrer Lebensrealität. Sie werden auch nicht unbedingt zufriedener durch mehr Wachstum. Außerdem sehen wir mittlerweile die negativen Folgen: Umweltzerstörung, Druck in der Gesellschaft, die Schere zwischen Arm und Reich. Diese Probleme sind mit dadurch verursacht, dass sich Politik allein auf die Größe des Wachstums konzentriert. Über Qualität von Wachstum sprechen wir bisher nicht oder nur sehr selten. Es wird nicht gemessen, wie viel Umweltzerstörung in diesem Wachstum inbegriffen ist, was es für soziale Auswirkungen und Kosten für eine Gesellschaft hat. Insofern würde ich sagen: BIP-Wachstum und Wohlstand haben nicht mehr viel miteinander zu tun. Ich glaube aber trotzdem, dass wir ein qualitativ gutes Wachstum brauchen.

Hat sich die Politik zu lange auf das BIP-Wachstum konzentriert?

Ja, auch als Sozialdemokraten haben wir uns über Jahrzehnte hinweg massiv darauf konzentriert. Die Politik war ganz stark geprägt von Wachstum, Wachstum, Wachstum, fast um jeden Preis. Davon müssen wir wegkommen und sagen: Wachstum alleine macht nicht glücklich. Wir müssen immer auch gucken, was es für ein Wachstum ist und was es für Auswirkungen auf das Leben der Menschen hat.

Die Kritik am BIP als Wohlstands- und Fortschrittsindikator ist nicht neu. Warum kommt diese Diskussion gerade jetzt auf, auch auf internationaler Ebene?

Ich würde sagen es ist eine Art Leidensdruck. Wir erkennen in unseren hoch entwickelten Ländern, dass das BIP-Wachstum nicht automatisch zu Wohlstand führt und spüren schmerzhaft die negativen Auswirkungen. Wenn alle mit so einem Naturverbrauch leben würden wie wir, bräuchten wir die Erde zweimal. Dazu kommen auch Probleme mit psychischen Krankheiten und Wohlstandskrankheiten, die plötzlich zunehmen. Der Auslöser für die deutsche Debatte ist sicherlich auch die Finanz- und Wirtschaftskrise, die noch mal gezeigt hat, dass das BIP nicht nur diese ökologische und soziale Schwachstelle hat, sondern solche Krisenhaftigkeiten auch nicht vorhersagen kann, weil eben die Qualität von Wachstum überhaupt nicht gemessen wird.

Ist die Einsetzung der Enquete-Kommission eine Zeichen dafür, dass die Politik das Problem erkannt hat?

Zumindest haben die Fraktionen im Bundestag erkannt, dass es da was zu diskutieren gibt. Ich bin froh, dass Union, FDP und inhaltlich auch DIE Linke dabei sind. Man kann aber nicht oft genug betonen, dass die Initiative von Frank-Walter Steinmeier und der SPD-Fraktion ausging. Gemeinsam mit den Grünen haben wir es dann formuliert.

Herrscht zwischen den Fraktionen Einigkeit über die Zielvorstellungen?

Es gibt in dieser Enquete ganz unterschiedliche Positionierungen. Spannend dabei ist, dass es sich nicht unbedingt nur an Fraktionsgrenzen orientiert. Die Frage der Haltung zu Wachstum "Ist Wachstum nötig?" wird unterschiedlich beantwortet und die Frage der Wachstumsgrenzen genauso. Es gibt bei den Grünen und bei den Sozialdemokraten Leute, die sagen: Wir haben was den Ressourcenverbrauch objektive Grenzen, die wir nicht überschreiten dürfen, sonst endet es böse. Andere sagen, das ist nicht so dramatisch.

Wo sehen Sie die Aufgabe der SPD innerhalb der Kommission?

Wir haben nicht nur Ökonomie und Ökologie im Blick, was sich ja relativ leicht versöhnen lässt, sondern eben auch die soziale Gerechtigkeit und die Demokratiefrage. Die Grünen werden viel über die Verhaltensänderungen von Individuen sprechen, d. h. wie kann man es schaffen, dass die Bevölkerung sich ökologisch vernünftiger verhält. Und da ist es die Aufgabe der SPD, zu sagen: Wir wollen, dass trotzdem Teilhabe für alle gesichert ist. Nur weil jemand wenig Geld hat, darf man ihn nicht ausschließen. Er braucht trotzdem Zugang zu Energie, Mobilität und bestimmten Ressourcen, die vielleicht knapper werden, zum Beispiel qualitativ guter Nahrung. Da liegt der Unterschied zwischen SPD und Grünen, dass wir einen viel stärkeren Fokus auf diesen sozialen Aspekt legen.

Was sind die konkreten Ziele der Enquete-Kommission?

Da der Fokus wie schon gesagt derzeit zu stark auf dem BIP liegt, wollen wir einen neuen Fortschrittsindikator entwickeln. Dieser soll es ermöglichen, Politik zu bewerten und einen Maßstab zu entwickeln, ob Politik gesellschaftlichen Fortschritt mehrt oder nicht. In dem neuen Indikator sollen Aspekte der Ökologie ebenso enthalten sein wie soziale Aspekte. Darüber hinaus Gesundheit, Bildung und Teilhabefragen.

Es gibt ja schon eine Reihe von Indikatoren, die einen ähnlichen Ansatz haben. Warum nimmt man nicht einen von denen?

Diese Indikatoren sind zum Teil ganz gut und wir werden sie uns angucken. Das Hauptproblem dieser Indikatoren liegt allerdings darin, dass sie von der Politik nicht ausreichend ernst genommen werden. Die Enquete, so verstehe ich sie, macht sich zum Auftrag einen Indikator zu finden, der entsprechend wichtig genommen wird. Er muss eine Art Leitplanke des politischen Handelns werden. Deshalb ist es wichtig, dass viel darüber berichtet wird und öffentlich darüber diskutiert wird, um so einen Indikator auch in die Köpfe zu bringen.

Besteht nicht trotzdem die Gefahr, dass es letztlich nur ein Indikator unter vielen bleibt?

Deshalb geht es vor allem um die Bedeutung eines solchen Indikators. Ich finde es gut, dass sich die Politik mit der Wissenschaft zusammensetzt und sich anguckt: was genau braucht es denn für unsere Gesellschaft, was heißt gesellschaftlicher Fortschritt? Das sind eben nicht nur wissenschaftliche Fragen, sondern auch politische Wertungsfragen. Vielleicht ist das Ergebnis gleichbedeutend mit einem existierenden Index, dann nehmen wir den. Hauptsache ist, dass er ernst genommen wird. Denn wir wollen nicht nur Handlungsempfehlungen aussprechen, sondern etwas Dauerhaftes schaffen, indem wir uns auf einen Indikator einigen. Ob das gelingt, wird man in zweieinhalb Jahren sehen, aber ich bin ganz optimistisch.

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