Inland

Das Grundgesetz als Biographie

von Hartmut Bäumer · 18. Februar 2009
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Dieser Beginn des Buches ist nicht zufällig, sondern durchgehaltenes Motto: Der Mensch steht im Mittelpunkt, nicht der Staat in schlechter deutscher Tradition; weder theoretische Verfassungs- noch abstrakte Schulddiskussionen prägen den Text, sondern Menschen, die Wirklichkeit, in der die neue deutsche Verfassung entsteht und auf die sie zurückwirkt.

Die Schrift berührt in der Art und Weise, wie es die Geschichte unseres schwierigen Landes im letzten Jahrhundert und besonders ab 1945 an Menschen lebendig werden läßt. Es entwickelt den gesellschaftlich-politischen Rahmen, in dem die Verfassung entstanden ist. Zeigt auf, wie sehr ihre Entstehung der geopolitischen Lage und den Interessen der Westalliierten geschuldet war und wie wenig sie am Anfang die Mehrheit der Deutschen berührte. Die hatten andere Sorgen. Sie waren mit ihrem Hunger und Elend beschäftigt und mit einer reflexartigen Abwehrhaltung im Umgang mit Schuld oder Mitverantwortung für die Greuel der Nazizeit.

Es ist beeindruckend, wie es Bommarius gelingt, beide Phänomene, die reale Not und die Verdrängung der Schuld nebeneinander zu stellen und jedes für sich gelten zu lassen. Das wäre vor 30 oder 40 Jahren noch kaum möglich gewesen. Zu groß damals die Versuchung, entweder die Wahrnehmung der Not nur als gerechte Strafe anzusehen oder aber diese Not als eine unverschuldete Boshaftigkeit der Geschichte oder der Siegermächte hinzustellen. Dabei hat jedes seine eigene Berechtigung und ist zugleich Teil des deutschen Dramas.

Drei Generationen

Deutlich wird dieses "Drama" an den Verstrickungen und Rollen der drei Generationen der liberal-konservativen Familie Simons: Walter, der ehemalige Außenminister und Reichsgerichtspräsident in der Weimarer Zeit, der später der Verführung des Führers erliegt, Hans, sein Sohn, der als Jurist aktiv für die Weimarer Demokratie eintritt, es bis zum schlesischen Oberpräsidenten bringt und dann als Sozialdemokrat von den Nazis verfolgt wird und 1935 in die USA emigriert.

Er kehrt 1947 als amerikanischer Professor im Auftrag der USA zurück und steuert die Verfassungsverhandlungen aus USA-Sicht und droht an den Deutschen ein weiteres Mal zu verzweifeln. Seine Schwester Tula, Assistentin des Nazikronjuristen Carl Schmitt heiratet dessen besten Schüler Ernst Rudolf Huber. Als deren Kind kommt der derzeitige Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirchen in Deutschland zur Welt.

In der dritten Generation steht auch Gerhard, ein Sohn von Hans. Er wurde Hauptmann der Wehrmacht, 1944 von Hitler hoch dekoriert und 1948 Anführer einer ersten Studentendemonstration unter Bruch des Bannmeilengesetzes gegen zu niedrige Essenszuteilungen.

In dieses gesellschaftliche Umfeld stellt Bommarius die Aufarbeitung der Entstehungsgeschichte des GG. Von den ersten noch durch die Weimarer Reichsverfassung stark geprägten Vorschlägen aus dem New Yorker Exil bis hin zu den Herrenchiemseer Beschlüssen und danach zum endgültigen Vorschlag des Parlamentarischen Rates in der Bonner Pädagogischen Anstalt. Er entfaltet ein Bild von Menschen und Mächten, von Interessen und Intrigen, von Freuden und Enttäuschungen, das im Ergebnis - oh Wunder möchte man sagen - ein hervorragendes Provisorium, ein Grundgesetz zu Wege brachte. Eine Verfassung wollten die Deutschen wegen der erwarteten und befürchteten Teilung des Landes nicht.

Erfolgreiches "Provisorium"

Das überzeugendste an diesem 2009 sechzigjährigem Provisorium sieht der Autor zurecht in dem, was er "kopernikanischen Wende" nennt, den definitiven Bruch mit dem bisherigen deutschen Verfassungs- und Staatsverständnis, formuliert in Art 1. "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Der Staat hat dem Menschen zu dienen, und nicht der Mensch dem Staat, hatte Carlo Schmid die zentrale Devise bereits in Herrenchiemsee ausgegeben und so kam es zur freiheitlichsten Verfassung, die Deutschland je hatte.

Mit einem Grundrechtekatalog an erster Stelle, der auch international bis heute selten erreicht ist. Ganz anders die Verfassungen der DDR übrigens. Sie hielten durchgängig am alten Staatsverständnis in deutscher Tradition fest, der nunmehr als sozialistischer den Rahmen für die Freiheiten des Individuums abgab. ( Art 2 und 19 Verfassung DDR von 1968)

Im Buch werden die politischen Kämpfe um wichtige Grundrechte quer durch die damals wieder oder neu entstehenden Parteien , CDU, SPD, DP,KPD Zentrum, BHE,CSU beschrieben und auch auf zentrale Probleme hingewiesen:
Z.B. die mit dem GG verbundene definitive Teilung Deutschlands oder die wesentlich von den USA und Frankreich im Bunde mit Bayern vorangetriebene Form des Föderalismus mit Bundesrat, den Carlo Schmid schon 1948 weitsichtig als Verteidigung des Bürokratismus brandmarkte.

Trotz allem aber, trotz der Teilnahmslosigkeit der großen Mehrheit der Deutschen, trotz zweifelhafter Interventionen des Westalliierten, trotz der Obstruktion der KPD und der Sowjetunion, ist ein Provisorium entstanden, das für die Westdeutschen ein Geschenk ersten Ranges werden sollte, dessen wahren Gehalt sie erst Jahre später entdecken.

Zur Biographie des GG gehört natürlich auch dessen "Bewährung" im wahren Leben. Diese Kapitel sind etwas zu knapp, aber auch sie von Bedeutung: Die zentrale Rolle des Bundesverfassungsgerichts als Hüter der Grundrechte als Abwehrrechte gegen den Staat, die die unselige Weimarer Verfassungslage ohne subjektiv einklagbare Grundrechte beendet, wird - etwas zu positiv - herausgestellt, wie seine Bereitschaft und Fähigkeit sich gegenüber den anderen Gewalten zu behaupten und sie in die rechtsstaatlichen Schranken zu weisen.

In den heutigen Zeiten, in denen der Präventivstaat die Lehren aus der Perversion freiheitlich verfasster Gemeinwesen zu vergessen scheint, sieht der Autor das Bundesverfassungsgericht als letzte Bastion zum Schutz von Bürger - und Freiheitsrechten. Eine stetige Aufgabe wie Bommarius weiß : er stellt dem Buch einen Stoßseufzer von Oskar Maria Graf voran : "Die Freiheit schenkt sich nicht…"

Christian Bommarius, Das Grundgesetz, eine Biographie, 286 Seiten,
erschienen Januar 2009 bei Rowohlt, Berlin

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