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Claudia Moll: „Pflege, wie ich sie mir wünsche“

Auf Pflegebedürftige eingehen, Pflegekräfte wertschätzen und Angehörige entlasten – für die Bundestagsabgeordnete Claudia Moll ist Altenpflege ein schöner Beruf, wenn die Bedingungen stimmen. Dabei geht es nicht nur um Geld, erklärt sie im Interview.
von Vera Rosigkeit · 9. Dezember 2020

Mit „Gute Pflege – Machen“ haben Sie ein Papier zur Verbesserung der Pflege in Deutschland vorgelegt. Gab es einen konkreten Anlass?

Nein, ich habe das schon länger geplant. Einiges was wir im Bundestag beschließen, lässt sich in der Praxis nicht immer gut umsetzen oder hat eine andere Wirkung als geplant. Ich stütze mich vorwiegend auf die stationäre Altenpflege, hier kann ich knapp 30 Jahre Berufserfahrung aufweisen. Meine Idee war, Pflege mal so zu beschreiben, wie ich sie mir wünschen würde. Und was zu tun ist, damit der Pflegealltag einfacher wird. Dabei geht es nicht immer um langwierige Projekte, sondern Stellschrauben, die viele kleine, aber wirkungsvolle konkrete Maßnahmen in Gang setzen.

Wie sieht denn für Sie gute Pflege aus?

Bei guter Pflege wird auf Pflegebedürftige individuell eingegangen, Pflegekräfte werden wertgeschätzt und Angehörige sind entlastet. Nicht jeder kann pflegen, aber jeder von uns kann von heute auf morgen pflegebedürftig werden. Fangen wir mal mit den Pflegekräften an und deren Bezahlung an. Natürlich muss das besser werden und wir brauchen dringend einen Tarifvertrag. Dabei ist für mich noch immer die Frage unbeantwortet, warum ein Facharbeiter in der Autoindustrie mehr Gehalt und Wertschätzung erhält als eine examinierte Pflegefachkraft, die, wenn sie nach Tarif bezahlt wird, inklusive Nacht- und Wochenendschichten auf eventuell ca. 3.200 Euro brutto kommt. Doch auch mit flächendeckendem Tarifvertrag ist klar, es müssen vor allem die Rahmenbedingungen besser werden.

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Wenn nicht die Bezahlung im Vordergrund steht, was dann?

Wir brauchen mehr Personal. Wir brauchen mehr Fachkräfte und mehr Pflegehilfskräfte, aber auch mehr Personal im betreuenden und hauswirtschaftlichen Bereich. Nur mit mehr Händen/Kolleg*innen durchbrechen wir den Teufelskreislauf in einem Gesundheitsberuf, der zurzeit selbst krank macht. Das Problem ist auf Regierungsebene angekommen und sollte mit dem Sofortprogramm Pflege und 13.000 neuen Pflegekräften abgemildert werden. Fakt ist aber auch, dass derzeit keine 13.000 Pflegekräfte zur Verfügung stehen. Zudem ist das Antragsverfahren so kompliziert und aufwendig, dass viele Einrichtungen erst gar keinen Förderantrag stellen.

Wenn derzeit keine 13.000 Pflegekräfte abrufbar sind, wie lassen sich dann aktuell berufstätige Pflegekräfte entlasten?

Indem wir den Schlüssel von Alltagsbegleitern erhöhen, die Bewohner*innen beispielsweise in den Gottesdienst begleiten oder mit Bewohnern gemeinsam gärtnern. Diese zusätzliche Betreuung kann Pflegekräfte sofort deutlich entlasten. Dazu müssten wir ihren Schlüssel von derzeit 20 Bewohner*innen mit einer Betreuung, auf zehn zu eins erhöhen und ihnen mehr Befugnisse einräumen. Entlastend wäre auch, wenn Pflegedienstleitungen, die in erster Linie Büroarbeit zu erledigen haben, nicht mehr wie derzeit in manchen Bundesländern üblich, bei der Personalbemessung vollständig als Pflegekräfte berechnet werden. Diese Schreibtischaufgaben müssen aus dem Personalschlüssel herausgerechnet werden, damit mehr Zeit am Menschen bleibt.

Sie fordern eine Änderung des Personalschlüssels, unabhängig vom Pflegegrad. Warum?

Derzeit ist der Personalschlüssel an die Pflegegrade der Bewohner*innen gebunden. Der Pflegegrad allein ist aber nur wenig aussagekräftig, weil jeder Pflegebedürftige individuell zu versorgen ist. Eine Person mit Pflegegrad fünf verursacht einen anderen, aber nicht unbedingt höheren Zeitaufwand als beispielsweise eine mobile Person in Pflegegrad drei mit einer fortgeschrittenen Demenz. Aber für die Pflegegrad drei erhält die Einrichtung weniger Geld und muss dann die Minuten, die sie möglicherweise mehr für die Versorgung des Demenzkranken braucht, bei der Person mit Pflegegrad fünf stehlen. Genauso wenig kann eine Einrichtung vorausschauen, wie viele Heimbewohner*innen im kommenden Jahr mit dem Pflegegrad zwei, drei, vier oder fünf ausgestattet sind. Davon aber hängt die Personaldecke ab. Die Konsequenz sind oft befristete Arbeitsverträge. Deshalb muss der Personalschlüssel nach Pflegeaufwand und unabhängig vom Pflegegrad bemessen werden. So haben die Pflegekräfte die Zeit, um auf die Bewohner*innen, deren individuellen Bedürfnisse und Biographien einzugehen.

Wie können wir für mehr Nachwuchs in diesem Beruf sorgen?

Wir müssen mehr junge Menschen für diesen Beruf begeistern. Ich könnte mir einen Pflege-Freiwilligendienst vorstellen. Der Beruf ist großartig und vielseitig. Man muss ihn nur erst einmal kennenlernen. Dabei können auch Patenschaften zwischen Schulen und Altenheimen helfen, in dessen Rahmen Schüler*innen regelmäßig Heimbewohner*innen besuchen. Dabei geht es natürlich nicht um Pflege, sondern um Unterhaltung. Sie lesen vor, spielen Mensch-ärgere-dich-nicht oder gehen spazieren. Durch diese Kontakte lassen sich Angst und Vorbehalte abbauen. Darauf kann man aufbauen.

Was ist mit den Angehörigen, die zu Hause pflegen?

Angehörige brauchen viel mehr Unterstützung. Wir müssen Selbsthilfegruppen und Pflegestützpunkte fördern. Nicht alle können sich über das Internet mit Informationen versorgen, viele brauchen das persönliche Gespräch. Deshalb brauchen wir auch vor Ort für mehr Beratungsangebot mehr Personal. Pflegende Angehörige haben neben den Pflegeaufgaben oftmals selbst Kinder und einen Job. Ich möchte, dass diese Anstrengungen nicht durch Bürokratie und fehlende Beratungsangebote erschwert werden. In meiner Wunschvorstellung werden Quartiere so sensibilisiert, dass man auch bei der Apotheke nebenan Informationen bekommt. Außerdem arbeiten wir intensiv daran, dass Angehörige einfacher und schneller an Kurzzeitpflegeplätze für ihre Pflegebedürftigen kommen, um eine Verschnaufpause zu erhalten.

Was brauchen Heimbewohner*innen, um die es letztendlich ja geht?

Mir war immer wichtig, dass sie mit ihrer Biografie wertgeschätzt und ihre Bedürfnisse respektiert werden. Auch habe ich als Pflegekraft keinen Erziehungsauftrag. Eine Erfahrung aus meiner Berufspraxis war, dass eine Bewohnerin, die schon immer dünn war, in der Einrichtung zunehmen sollte, womit die Bewohnerin sehr unglücklich war. Gibt es ausreichend Personal, bleibt ausreichend Zeit, die jeweilige Biografie der Bewohner*innen berücksichtigen zu können. Dazu zählt für mich auch, dass den Bewohner*innen ein höheres Taschengeld zur Verfügung steht. Er sollte für die tägliche Zeitung, für den Frisör und für Weihnachten reichen.

Wie lässt sich die Finanzierung in der Pflege langfristig sichern?

Um dem Personalnotstand entgegenwirken zu wirken, müssen wir Geld in die Hand nehmen. Dazu müssen die Beiträge der Pflegeversicherung zunächst steigen, allerdings nur unter der Voraussetzung und Legitimation, dass dadurch die Pflege spürbar besser wird. Aus meiner persönlichen Erfahrung aus vielen Gesprächen weiß ich, dass viele Menschen dazu bereit sind. Minimale Erhöhungen zum Beispiel um einen Wert unter einem Prozentpunkt des Bruttolohns führen zu jährlichen Mehreinnahmen von mehreren Milliarden Euro. Ziel ist eine Vollversicherung in der Pflege, ähnlich der gesetzlichen Krankenversicherung. So können wir für eine bezahlbare Pflege sorgen.

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Vera Rosigkeit

hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.

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