Bundesteilhabegesetz: „Menschenrechte dürfen keine Frage des Geldes sein“
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Der Bundestag hat am Donnerstag das Bundesteilhabegesetz beschlossen. Es soll Menschen mit Behinderungen mehr Freiheit und Selbstbestimmung ermöglichen. Wird das Gesetz diesem Anspruch gerecht?
Das Gesetz ist eine gute Basis, auf der wir weiter arbeiten können. Bundessozialministerin Andrea Nahles hat erreicht, dass Menschen mit Behinderungen künftig mehr Geld sparen können. Wer Eingliederungshilfe erhält, soll nicht mehr nur 2.600 Euro Vermögen behalten dürfen. Ab 2020 können erwerbstätige Bezieher von Eingliederungshilfe bis zu 50.000 Euro ansparen. Auch Vermögen und Einkommen eines Partners werden künftig nicht mehr angerechnet. Für Menschen, die in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen arbeiten und existenzsichernde Leistungen aus der Sozialhilfe beziehen, verdoppelt sich künftig nicht nur das Arbeitsförderungsgeld, sondern annähernd auch ihr Schonvermögen. Das ist ein wichtiger Schritt zu mehr Teilhabe.
In welchen Bereichen des Gesetzes sehen Sie noch Nachbesserungsbedarf?
Die Formulierungen im Bereich Wohnen sehe ich eher kritisch. Dort wird zwar dem Wunsch nach selbstständigem Wohnen eine besondere Bedeutung zugemessen, aber es besteht eben kein Anspruch. Genauso wie die Formulierung, dass dem Wunsch des Menschen mit Behinderungen zum Beispiel nach einer eigenen Assistenz, die man nicht mit anderen teilen muss, nur dann entsprochen wird, wenn dieser als „angemessen“ bewertet wird. Diese weichen Formulierungen können dazu führen, dass viele Entscheidungen noch einmal einer gerichtlichen Überprüfung unterzogen werden müssen. Weiteren Handlungsbedarf sehe ich bei den Regularien für die Eingliederungshilfe. Im Gesetz sind die Kriterien noch nicht final festgelegt worden, die für die Frage der Leistungsberechtigung entscheidend sind. Bis 2023 soll es eine umfassende Evaluation dazu geben, wer leistungsberechtigt ist. Mir ist wichtig, dass Menschen mit Behinderungen in dieser Phase konsequent beteiligt werden.
Was bedeutet dieser Prozess für Ihre Arbeit?
Ich werde alle Prozesse, wie beispielsweise die Einrichtung der unabhängigen Teilhabeberatung, konstruktiv mit meiner Expertise begleiten. Andrea Nahles hat für das Bundesteilhabegesetz ein umfassendes Beteiligungsverfahren gestartet, damit wurde ein Grundsatz der UN-Behindertenrechtskonvention „nichts über uns, ohne uns“ umgesetzt. Diese Beteiligung sollten wir weiterleben und als Maßstab für eine Fortentwicklung des Gesetzes sehen.
Unternehmen, die Menschen mit Behinderungen einstellen, sollen künftig stärker gefördert werden. Ist das der richtige Schritt, Menschen mit Behinderungen besser in den Arbeitsmarkt zu integrieren?
Ja. Mit dem Budget für Arbeit hat die Bundesregierung ein Instrument geschaffen, das den Übertritt von der Werkstatt in den inklusiven Arbeitsmarkt fördert. Das ist sehr wichtig, denn der Arbeitsmarkt ist ein zentraler Bereich für Inklusion von Menschen mit Behinderungen. Entscheidend wird aber sein, dass auf diesen gesetzlichen Schritt ein Prozess der Bewusstseinsbildung folgt und Menschen mit Behinderungen ein ganz normaler Teil der Arbeitswelt werden.
Gegen das Bundesteilhabegesetz gab es bis zuletzt Proteste von Verbänden und Initiativen. Man hat das Gefühl: So richtig zufrieden ist mit dem Gesetz in seiner derartigen Form niemand. Woran liegt das?
Menschen mit Behinderungen haben jahrzehntelang darauf gewartet, dass die Teilhabe reformiert wird. Da waren die Erwartungen an das entsprechende Gesetz extrem hoch. Die Kommunen und die Länder hatten demgegenüber die Erwartung, dass mit dem neuen Gesetz erheblich gespart wird. Das hat den Start des Bundesteilhabegesetzes nicht leichter gemacht. Letztlich ist es eine gesellschaftliche Frage, wie viel wir bereit sind, in die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zu investieren. In meinen Augen ist die Inklusion eine der wichtigsten gesellschaftlichen Fragen.
Die Bundesländer befürchten, dass künftig deutlich höhere Kosten auf sie zukommen werden. Ist diese Befürchtung gerechtfertigt?
Wenn wir Menschen mit Behinderungen dieselben Rechte einräumen wollen, wie Menschen ohne Behinderungen, werden wir nicht darum herumkommen, in Teilhabe zu investieren. Menschen mit Behinderungen werden älter als früher und haben andere Möglichkeiten der Teilhabe – dem müssen Länder und Kommunen gerecht werden. Menschenrechte dürfen keine Frage des Geldes sein.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.