Europa steht mit dem Rücken zur Ostsee. Die EU-Außenminister des Ostseerates, bei ihrer Tagung im dänischen Helsingör gerne in den Pausen am Strand versammelt, diskutieren zumeist dem Wasser abgewandt. Das mag an dem kräftigen auflandigen Wind liegen. Nur der Außenminister der Russischen Konföderation nimmt die Ostsee in den Blick. Er sieht dabei aus wie eine Kathedrale unter Reihenhäusern.
EU-Strategie für das Baltische Meer
Das Thema der Ministerkonferenz am 4. Juni war die neue EU-Strategie für das Baltische Meer, die den Regierungen der Union am 10. Juni 2009 zusammen mit einem Aktionsplan auf die
Kabinettstische gelegt worden ist. Am Öresund geht es um Forschung und Lehre in allen ökologisch relevanten Wissenschaften und wie sie sich mit der ökologisch interessierten Industrie zusammentun
sollen, damit daraus ökologisch kluges Wirtschaftwachstum entstehen kann. Im Mittelpunkt der Gespräche stehen die Erhaltung des Meeres, die Versorgung mit gesunden Lebensmitteln, die
Erschließung dauerhafter und sauberer Energiequellen und der Ausbau der Gesundheitsvorsorge: Themen von Lebenswissenschaften und Biotechnologie im weitesten Sinne. Die Ostseerunde glänzt dabei
von Selbstbewusstsein.
Platz drei im Wettbewerb von Innovation und Effizienz
EU-Kommissar Günter Verheugen hatte im Februar 2008 in Stockholm bei einer der Vorbereitungskonferenzen der Schweden auf ihre EU-Präsidentschaft über seine Weltrangliste der besten
Überregionalmannschaften in den Lebenswissenschaften gesprochen. Nummer eins ist die San Francisco Bucht mit Stanford und Silicon Valley, platzgleich mit der Region von Boston, die Harvard zu
bieten hat. Auf Platz drei im Wettbewerb von Innovation und Effizienz steht die Ostseeregion, hier als so genannte ScanBalt-Bioregion, Biowissenschaften in Skandinavien und den Baltischen
Staaten, in Norddeutschland, Polen und Sankt Petersburg. Leistung lohnt sich? Zumindest bekommen Dänemark, Schweden und Finnland in diesen Tagen aus Brüssel keinen blauen Brief wegen
Staatsverschuldung, was 21 andere EU-Länder nicht ohne Neid bemerken. In Lebenswissenschaften und Biotechnologie macht die ScanBalt-Bioregion Europas Norden zur Spitze des alten Kontinents.
Ostsee heißt Vielfalt
Seit wann ist denn in Europa der Norden oben? Der Ostseeraum ist eigentlich eine kleinteilige, dünn besiedelte, abseitige Region der Unterschiede und der vielen Grenzen. Die Ostseeanrainer
unterscheiden sich durch ihre Sprachen, die häufig nicht einmal verwandt sind, durch ihre ethnischen Wurzeln in germanischen oder slawischen Völkern, durch ihre differente Verbindung zu den drei
großen christlichen Kirchen, durch ihre neueste Geschichte bis 1918 oder 1945 oder 1990, übrigens auch hinsichtlich ihrer Lebenserwartung mit durchschnittlich über 20 Jahren Unterschied zwischen
Männern in Russland und Männern in Norwegen.
Noch ein Unterschied, der weh tut: Der Wohlstand klafft gefühlt noch weiter auseinander als die Lebenserwartung. In anderen Weltregionen nennt man so etwas Gegensätze und fürchtet den
Zündstoff darin für Konflikte. An der Ostsee heißt das Vielfalt. Vielfalt schließt sich über Ländergrenzen hinweg zusammen, bündelt ihre Stärken und konkurriert dann als Mannschaft mit Stanford
und Harvard, mehr steckt gar nicht dahinter, hinter der ScanBalt-Bioregio und ihrem Spitzenplatz in Europa.
BioCon Valley aus Mecklenburg-Vorpommern
So ein Zusammenschluss heißt derzeit Cluster. Cluster sind - um ein dem Ostseeraum angemessenes Bild zu verwenden - wie Schiffe: eine gut ausgewählte und organisierte Mannschaft arbeitet
planmäßig zusammen, hat einen festen Kurs vor Augen, transportiert ihre Idee oder ein bestimmtes Projekt mit Ausdauer und Geschick bis zu dem gewünschten Ziel. Es gibt viele Schiffe auf der
Ostsee. Einige Dickschiffe sind darunter, wie der schwedisch-dänische Cluster Medicon Valley, in dessen medizinischen Forschungszentren in Lund und Kopenhagen zwei Nobelpreisträger am Werk sind
und dessen Pharma-Unternehmen wie Novo-Nordisc derzeit mehr Geld in Forschung und Entwicklung investieren als ein durchschnittliches westdeutsches Bundesland.
Andere Cluster sind eher Küstenmotorschiffe, wie die BioCon Valley aus Mecklenburg-Vorpommern, die für die regionale Biotechnologie mit den typischen kleinen und mittleren Unternehmen und Hochschulen wichtige Verbindungsdienste leisten. ScanBalt, das internationale Gemeinschaftsunternehmen hinter der ScanBalt-Bioregio, eine Nicht-Regierungs-Organisation von Wissenschaft, Wirtschaft und Politik mit über 3000 Mitgliedern, macht aus den Clustern eine Flotte. Diese Flotte ist heute die stärkste ihrer Art in Europa.
Modell für Europa?
Ist der Ostseeraum damit eine Modellregion für Europa? Wenn man Bildung, Wissenschaft und Kultur als neue Wertmaßstäbe nimmt, - die beste Staatsidee, die wir nie hatten -, dann ist die
Frage gar nicht so vermessen. Die Gegend weist bei jedem Pisa-Test weltweit die besten Schulen auf. Jahr für Jahr werden hier die Nobelpreise verliehen, ohne dass irgendjemand am richtigen Genius
loci zweifelt. In der gebrannten Größe ihrer jeweiligen Backsteindome reiht sich an der südlichen und östlichen Küste eine UNESCO-Weltkulturerbstätte an die andere. Und ScanBalt legt jetzt das
bislang größte regionale Forschungstransfer-Programm in Europa auf, "Smarth Growth - Kluges Wachstum". Die kleinen und mittleren Unternehmen an der Ostsee in den Bereichen Medizin, Ernährung,
Energie und Umweltschutz sollen dabei besonders von der Expertise der Wissenschaftszentren profitieren. Der Norden will ökologisch und ökonomisch weiter wachsen, auf breiter Fläche.
Die Wachstumsvoraussetzungen sind gut: Regionales Selbstbewusstsein, Wissenschaft als identitätsstiftender gemeinsamer Wert, Cluster-Tradition, Spitzenforschung in der Biotechnologie,
Bekenntnis zu klugem Wachstum. Ein Punkt kommt an der Ostsee vielleicht noch dazu: Die Europäische Kommission hat hier nicht alleine das Sagen. Am Konferenztisch des Ostseerates sitzen alt
gediente westliche EU-Außenminister und junge EU-Europäer aus den Baltischen Staaten, aber Norwegen ist auch dabei, und der ganz große Spieler am Tisch heißt Russland. Viele Wege führen von
Moskau in das Zentrum Europas.
Der klassische Ausgangspunkt für die historische Strecke über die Ostsee ist St. Petersburg. Wie viel Wissenschaftspotettial in Lebenswissenschaften und Biotechnologie, in Medizin, maritimer Forschung und Agrarwissenschaft hat Sankt Petersburg eigentlich wirklich zu bieten in seiner etwas unüberschaubaren Zahl von Hochschulen, Universitäten, Wissenschaftsinstituten und Akademieeinrichtungen? Wie viel von dieser Expertise ist man bereit mit den anderen Ostseeanrainern zu teilen? Wie stark wird der Norden Europas erst mit Russland im Boot werden?
In Zukunft mit Russland
Doch noch eine Frage: Wann übernimmt die russische Admiralität das Kommando über die ScanBalt-Flotte? Und dies: Wie viel Russland verträgt die Gemeinschaft im Norden?
Der russische Außenminister sagt zu diesen Fragen in Helsingör nichts, aber so fragt ihn da auch keiner. Interessant wird der 9. Juli werden, wenn in Schwerin das ScanBalt-Projekt "Smart
Growth" vom Stapel läuft und die Mitwirkung konkret wird. Die Bedeutung St. Petersburgs als Forschungszentrum gerade in den grundlegenden und angewandten Lebenswissenschaften kann man gar nicht
unterschätzen. Das Gemeinschaftsunternehmen ScanBalt wird mit kooperativen russischen Partnern viel leistungsfähiger werden können. Eine ausgewogene Zusammenarbeit könnte zum Glücksfall für
Europa werden. Der Norden wird noch mehr zur Modellregion Europas, ganz oben.
Hans-Robert Metelmann ist Medizinprofessor an der Universität Greifswald, ist Vorsitzender von ScanBalt und war von 2002 bis 2006 Kultusminister von Mecklenburg-Vorpommern im
Kabinett Ringstorff.
Prof. Dr. Dr. Hans-Robert Metelmann, Direktor der Universitätsklinik für MKG-Chirurgie/Plastische Operationen der Universität Greifswald, ist Vorsitzender von ScanBalt seit 2007, war
Wissenschaftsminister in Mecklenburg-Vorpommern von 2002-2006 und zuvor Rektor der Universität Greifswald.
metelmann(at)uni-greifswald.de
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ScanBalt, Arne Jacobsens Alle 15, 2, 2300 Copenhagen (DK),
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