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Bildung: Wie Herkunft in Deutschland über Lebenschancen entscheidet

Bildung entscheidet über Lebenschancen. Für viele enden diese bereits im Alter von 10 Jahren im vierten Schuljahr. Warum die SPD wieder für mehr Gerechtigkeit in der Bildung kämpfen muss.
von Vera Rosigkeit · 3. Juni 2016
Schule muss gerechter werden - denn Bildung entscheidet über Lebenschancen
Schule muss gerechter werden - denn Bildung entscheidet über Lebenschancen

100, 77, 23. Drei Zahlen haben den Journalisten Marco Maurer dazu gebracht, ein Buch zu schreiben. Titel: „Du bleibst, was du bist. Warum bei uns immer noch die soziale Herkunft entscheidet.“ Die Chancengleichheit in Deutschlands Bildungssystem stellt sich in der Realität so dar: Von 100 Akademikerkindern besuchen 77 eine Hochschule, von 100 Nicht-Akademikerkindern nur 23. „Ist Herkunft ein Gefängnis?“, fragt Nicht-Akademikerkind Marco Maurer. Sein Grundschullehrer habe ihm keine Empfehlung für eine weiterführende Schule ausgesprochen, den Zugang zur Hochschule konnte er sich erst über den zweiten Bildungsweg erarbeiten. „Das hat doch keinen Wert bei ihm“, so das vernichtende Urteil des Lehrers über seinen damals 10-jährigen Schüler.

Soziale Herkunft entscheidet

In der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) liest Maurer am Donnerstag aus seinem Buch, in dem er die Ungerechtigkeiten und Hindernisse beschreibt, denen Kindern aus bildungsfernen Schichten ausgesetzt sind und die sie überwinden müssen.

Es ist der Auftakt zur Konferenz „Gerechtigkeit fängt bei der Bildung an ­– Eine sozialdemokratische Erzählung“. Damit will das Netzwerk Bildung der FES daran erinnern, dass Bildung ein Grundrecht ist, das jedem Menschen Bildung unabhängig von sozialer und ethnischer Herkunft zugängig sein solle, und dass Deutschland von diesem Ziel weit entfernt ist. „Möge die Sozialdemokratie endlich die Sprachlosigkeit auf dem Gebiet der Bildung beseitigen“, fordert der ehemalige Staatssekretär des brandenburgischen Bildungsministeriums Burkhard Jungkamp in seiner Begrüßung.

Marianne Demmer unterstützt das. Als Kind der „ersten Bildungsreform“, das soziale Spaltung aufgrund von Bildungsgangentscheidungen am eigenen Leib erfahren hat, verurteilt sie das Festhalten an der frühen Sortierung in unseren Schulen. Dieses Urteil am Ende der vierten oder sechsten Klasse beeinflusse das Leben der Kinder bis ins hohe Lebensalter, sagt die ehemalige Lehrerin und Vize-Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Es mache sie zornig, dass man Kindern das heute immer noch antue. „Die Selektion im Alter von 10 Jahren ist ein Verbrechen an Kindern“, erklärt sie.

Frühes Urteil mit lebenslangen Folgen

Dass es auch anders geht, weiß Susanne Thurn, die ehemalige Leiterin der Laborschule Bielefeld. In dieser voll inklusiven Schule werde seit 42 Jahren erfolgreich unterrichtet. Ohne Bruch nach der vierten oder sechsten Klasse, ohne vergleichende Leistungskontrollen werde hier von jedem Kind erwartet, dass es sein Bestmögliches gebe – „und das kann sehr unterschiedlich sein“, sagt Thurn. Nichts sei so motivierend wie der eigene Erfolg, fügt sie hinzu. Auch die hohe Quote von Schülerinnen und Schülern, die am Ende der Laborschule direkt in die Qualifikationsphase der Oberstufe wechselten, spreche für deren Wirksamkeit. Die Laborschule sei eine Schule der Zukunft, so Thurn.

Es sei für Sozialdemokraten eine deprimierende Feststellung, dass Deutschland als eines der reichsten Länder der Welt es schlechter schafft, Bildungsgerechtigkeit herzustellen als ärmere OECD-Staaten, räumt SPD-Vize Ralf Stegner ein. Bildung entscheide über Lebenschancen und sei deshalb die „Gerechtigkeitsfrage Nummer eins“. Die SPD müsse die Selektion abschaffen, fordert er, denn Kinder entwickelten sich anders. „Manche brauchen eine zweite, vielleicht eine dritte Chance, aber bekommen sie nicht.“

Milliarden für die Bildung

Dass in Bildung investiert werden müsse, steht für den Landesvorsitzenden der schleswig-holsteinischen SPD außer Frage. „Tun wir das nicht, fallen wir weiter zurück.“ Entgegen der Vorstellung vom schlanken Staat brauche es mehr Lehrerstellen. Die Forderung der gebührenfreien Bildung von der Kita bis zum Studium sei ein „familienfreundliches Programm“, denn es entlaste die „normale Familie“, so Stegner. Zugleich müssten die Berufsbildung und Weiterbildung für Arbeitnehmer ausgebaut werden. Und damit diese Forderungen keine Sonntagsreden blieben, müsse man bereit sein, Milliarden in die Bildung zu investieren, sagt er.

Ihre Erfahrung habe gezeigt, dass sie als Bildungsaufsteigerin oft als Legitimierung für das bestehende Schulsystem herangezogen werde – auch von der SPD, kritisiert Marianne Demmer. Sie verlangt von der SPD eine mutige und kritische Debatte darüber, was passieren kann, wenn eine Partei über viele Bildungsaufsteiger verfüge. „Das Fernhalten von Konkurrenz ist eine zentrale Sorge, die auch in der SPD nicht offen diskutiert wird“, sagt sie.

Nicht alle Bildungsaufsteiger seien Egoisten geworden, erwidert Stegner. Dennoch räumt er ein, dass 20 Jahre neoliberales Denken auch an der SPD nicht spurlos vorbeigegangen sei. Susanne Thurn wünscht sich von der SPD eine neue Bildungsoffensive, die sich hohe Ziele setze. „Dann dürfen die Schritte zu diesem Ziel auch klein sein.“

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Vera Rosigkeit

hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.

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