Inland

Aus Gnade wurde ein Recht

von Elena Wolf · 26. November 2008
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Im Mittelalter wurde die Armenhilfe aus Mitleid, Gnade und aus religiösen Gründen geleistet. Die Unterstützung der Armen war keine staatliche Aufgabe. Sie lag in den Händen gesellschaftlicher Kräfte, insbesondere der Kirchengemeinden. Die kirchlichen Maßnahmen reichten jedoch mit dem Beginn der industriellen Revolution nicht mehr aus, da die Armut zu einem Massenphänomen wurde. Dazu kamen ein gewisser Niedergang der kirchlichen Armenfürsorge und eine weitgehende Entkirchlichung des Adels und des Bürgertums durch die Verbreitung liberaler Ideen. Der Ruf nach gesetzlichen Regelungen wurde laut.

Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war von sozialpolitischer Aktivität des Staates gekennzeichnet. Als Beispiel dienen das Preußische Armenpflegegesetz von 1842 und Sozialversicherungsgesetze von Bismarck. Diese Gesetze hatten den Zweck, die größte Not der Menschen zu lindern, gleichzeitig aber auch der Unzufriedenheit der Massen, des "Proletariats", entgegenzuwirken und revolutionäres Potential zu befrieden. Der damalige Reichskanzler Otto von Bismarck war einer der Ersten, der diesen Zusammenhang von Unzufriedenheit und Revolutionsbereitschaft erkannt hatte und mit der Einführung der Sozialversicherungen der Arbeiterbewegung das Aufstandspotential nahm.

Einheitliches Fürsorgerecht in der Weimarer Republik

Nach dem preußischen Recht war die Fürsorge dem Bedürftigen aus Gründen der öffentlichen Ordnung gewährt, "damit nicht Hunger, Not und Verwahrlosung die niedrigen Bevölkerungsklassen zur Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung treibe und ein staatsgefährliches Proletariat aufkommen lasse". Vorherrschend war immer noch die Sichtweise, dass Arme ihr Los selbst verschuldet hatten und ihnen deshalb das kaum zum Leben Notwendige gegeben wurde.

Die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen des Ersten Weltkriegs haben gezeigt, dass sozialer Notstand auch andere Ursachen als eigenes Verschulden haben kann. Die nichtstaatliche Hilfe erwies sich als immer weniger ausreichend. Daraus zog die Sozialpolitik der Weimarer Republik die Konsequenz, das bisherige System der Armenfürsorge zu überwinden. Die damalige Neuordnung des Fürsorgewesens im Jahr 1924 war eine der wichtigsten Sozialreformen des 20. Jahrhunderts in Deutschland. Es wurde erstmals ein für ganz Deutschland einheitliches Fürsorgerecht eingeführt - der Vorläufer des heutigen Sozialhilferechts. In dem Fürsorgerecht der Weimarer Republik war der Arme jedoch noch nicht Subjekt eines Anspruches, sondern Objekt einer im öffentlichen Interesse auferlegten Verpflichtung. Die Hilfe wurde gewährt, um die öffentliche Sicherheit und Ordnung sicher zu stellen.

Rechtsanspruch erst in den 60er Jahren

In den 50er Jahren wurde mit dieser "armenpolizeilichen Tradition" gebrochen und ein Anspruch auf Hilfe wurde bejaht. 1953 wurde das materielle Fürsorgerecht zum Teil reformiert. Diese Reform hatte aber noch keinen Rechtsanspruch auf Fürsorge in das Gesetz aufgenommen. Dieser wurde erst mit der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte durchgesetzt. Der Gesetzgeber nahm den Rechtsanspruch auf Hilfe und die Verpflichtung auf die Menschenwürde 1961 in das Bundessozialhilfegesetz (BSGHG) auf: "Aufgabe der Sozialhilfe ist es, dem Empfänger der Hilfe die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht" (BSHG § 1 Abs. 2). Damit war ein Recht auf Mindestsicherung geboren, "zwar nicht als ein unmittelbar verfassungsrechtlich verbürgtes Recht, aber doch als ein durch menschenwürdekonforme Auslegung des Gesetzes gewonnener, einklagbarer Anspruch".

Das Bundesverfassungsgericht sprach erst Mitte der 70er Jahre von der Pflicht des Staates zur Sicherung der Mindestvoraussetzungen des menschenwürdigen Daseins. Begründet wird diese Pflicht aber nicht nur mit dem Schutz der Menschenwürde. Vielmehr lautet die bis heute durchgehaltene Formel, dass Art. 1 Abs. 1 GG (Menschenwürde) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 GG) den Staat zur Sicherung oder Schaffung dieser Mindestvorraussetzungen verpflichtet.

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