Armutsbericht: Sozialverbände fordern radikalen Kurswechsel
Eine Krise kann auch immer eine Möglichkeit zur Veränderung sein. Was heute in Medien und Politik gern als „Flüchtlingskrise“ bezeichnet wird, sieht Ulrich Schneider, Geschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, als eine Chance: Die prekäre Situation der Geflüchteten könne helfen, Politik und Gesellschaft endlich die Augen zu öffnen für die Probleme der Armut in Deutschland, dem fünftreichsten Staat der Erde.
Nicht alle Armen leben im Elend
Menschen in Armut gebe es viele in Deutschland, sagt Ulrich Schneider – auch in Zeiten guter Konjunkturdaten. Das gute Wirtschaftsjahr 2014 habe zu keinerlei Rückgang der Armutsquote geführt. Rund 15 Prozent der Bevölkerung seien arm – mehr als 12 Millionen Menschen.
Dabei betont Schneider: „Armut beginnt nicht erst dann, wenn Menschen verelenden.“ Wer den Begriff Armut auf „Elend“ reduziere, der wolle die Bedürftigkeit vieler armer Menschen in Deutschland in Abrede stellen – dies, so Schneider, attackiere den Zusammenhalt der Gesellschaft. Arm sei, wer auf Grund unzureichenden Einkommens nicht an den „normalen Lebensweisen dieser Gesellschaft“ teilhaben könne.
Besonders benachteiligt: Kinder, Alte und Migranten
Thomas Krüger vom Deutschen Kinderhilfswerk fordert, die Bildungschancen für junge Menschen zu verbessern. Laut dem Armutsbericht 2016 sind unter den Abiturienten sechsmal so viele Kinder von Akademikern als aus Arbeiterhaushalten: „Armut wird vererbt“, so Krüger. Auch die SPD-Sozialpolitikerin Kerstin Griese sorgt sich um das hohe Armutsrisiko bei Kindern: „Wir brauchen noch mehr Anstrengungen, um auch die Eltern schrittweise wieder in Arbeit zu bringen, die alleinerziehend sind oder von gesundheitlichen Einschränkungen betroffen sind“, so die Bundestagsabgeordnete.
Ebenfalls vermehrt vom sozialen Abstieg betroffen sind alte Menschen. Unter Rentnern ist der Anteil an Armen in den vergangenen Jahren zehnmal stärker angewachsen als bei der restlichen Bevölkerung, so der Armutsbericht 2016. Darüber hinaus befänden sich häufig Migranten und Obdachlose in der Armutsfalle.
Der Paritätische: keine Stimmungsmache gegen Flüchtlinge
Die Zuwanderung geflüchteter Menschen aus Syrien und anderswo stelle Deutschland vor logistische und politische Herausforderungen, so Ulrich Schneider vom Verband „Der Paritätische“. Auf die Armutsstatistik aber habe die Immigration bislang keine Auswirkungen – entsprechende Szenarien von einer Überlastung der Sozialsysteme durch Zuwanderer sind für Schneider „in erster Linie Stimmungsmache“.
Es müsse verhindert werden, dass sozial schwache Gruppen gegeneinander ausgespielt werden, fordert Günter Burkhardt, Geschäftsführer von Pro Asyl. Das von der Bundesregierung geplante Asylpaket II lehnt er ab – das Vorhaben produziere soziale Ausgrenzung und werde die Armut vergrößern, sagt Burkhardt, der sich auch gegen weitere Gesetzesverschärfungen wie die Residenzpflicht für anerkannte Flüchtlinge ausspricht.
Maßnahmen zur Armutsbekämpfung gefordert
Die Wohlfahrtsverbände wünschen sich von der Bundesregierung einen steuer- und sozialpolitischen Kurswechsel. Dazu zählen Regelsatzerhöhungen in der Sozialhilfe sowie Investitionen in Bildung und Wohnungsbau – finanziert durch höhere Steuern. „Armutsbekämpfung heißt immer auch Umverteilung“, so der Paritätische Gesamtverband.
ist promovierter Sprachwissenschaftler und war bis Mai 2018 Redakteur beim vorwärts.