Andrea Nahles: „Heimat kann man nicht verordnen“
Photographie Pitzen
Andrea Nahles, was bedeutet Heimat für Sie?
Heimat ist der Ort, an dem ich mich immer angekommen fühle. Ich habe in der Eifel die Adresse für mein Leben. Daheim sein bedeutet, dass man sich freier und sicherer fühlt als woanders. Im Beruf hat man immer auch eine öffentliche Rolle. Zu Hause kann ich diese Rolle und die damit verbundenen Verpflichtungen abstreifen. Mein Dorf gibt mir das Gefühl, dass ich mich entspannen kann. Die Nachbarn achten auf mich, meine Tochter, mein Haus, und darauf, ob es meiner Mutter gut geht. Jeder Kommunalpolitiker ist letztlich ein Heimatpfleger, im besten Sinne ein Patriot im Kleinen. Denn die Kommunalpolitiker interessieren sich mit Leidenschaft für die Aufgaben der Gemeinden. Ich war selbst im Gemeinderat, dann zehn Jahre im Kreistag. Man hat den Ansporn, alles noch besser zu machen als der Kreis nebenan.
Gibt es einen Geruch, bei dem Sie sich zu Hause fühlen? Oder Bilder?
Oh ja, den Wald in der Eifel. Dort gibt es viel Mischwald mit Buchen und Eichen. Wenn das Moos nach dem Regen in der Sonne glitzert und wenn mein Blick über die gut sichtbaren Vulkankegel schweift, fühlt sich das für mich nach zu Hause an.
Hat sich Ihr Heimatgefühl über die Jahre verändert?
Mir hat der Tod meines Vaters klargemacht, dass Heimat auch immer mit Menschen zusammenhängt.
Welche Bedeutung hat Heimat für die Bundespolitikerin Nahles?
Der Heimatbegriff der SPD ist mit Freiheit, Bildung und Emanzipation verbunden. Heimat entsteht, wenn die Menschen miteinander solidarisch sind und wenn ein handlungsfähiger Staat die Voraussetzungen für ein gutes Zusammenleben schafft. Einen verengten, ausschließenden Begriff von Heimat lehne ich ab. Jeder und jede soll selbst entscheiden können, wo er bzw. sie leben möchte – und dort heimisch werden können.
Unser Verständnis von Heimat hat nichts mit diesem altbackenen und einengenden Heimatverständnis zu tun, das über Menschen bestimmt, so wie die Konservativen es versuchen. Heimat kann man nicht verordnen. Und unser sozialdemokratisches Heimatverständnis hat erst recht nichts mit einem rassistisch begründeten Begriff von Heimat zu tun, wie Teile der AfD ihn pflegen. Die SPD hat gegen solche Begrenzungen immer gekämpft. Eine der großen Erfolgsgeschichten war es, Weltoffenheit auch in die kleinsten Dörfer zu bringen.
Warum gewinnt Heimat heute wieder an Attraktivität, auch in der politischen Debatte?
Ich glaube, dass Heimat im Zeitalter der Globalisierung mit ihren vielen Unsicherheiten ein wichtiger Haltepunkt ist. Heimat und Weltoffenheit lassen sich gut miteinander verbinden. Heimat und Globalität sind für mich bestens mit einer sozialdemokratischen, internationalen, emanzipatorisch-politischen Grundstimmung vereinbar. Ich werbe dafür, den Menschen diese Heimat nicht auszureden, sondern sie darin zu bestärken. Weil wir in den Kommunen so stark sind, weil wir viele Bürgermeisterinnen und Bürgermeister in Gemeinden und Städten haben, können wir viel tun, damit sich Menschen überall zu Hause fühlen.
Die Globalisierung verunsichert die Menschen. Was muss Politik leisten, damit Menschen sich heimisch fühlen?
Ich glaube nicht, dass man das zentral steuern kann. Das Gefühl wächst von unten, wir müssen unsere Aufgabe in den Kommunen verantwortungsvoll und verlässlich wahrnehmen. Es ist doch klar: Nicht nur Berlin und München sind Deutschland, sondern Wismar und Lehrte genauso wie die vielen kleinen Dörfer. Die föderale Struktur in Deutschland ist ein Vorteil, denn es gibt viel Selbstbewusstsein in den Regionen, und das ist gut für die Kommunen und für die Menschen vor Ort.
Hat das nur Vorteile?
Ja, wenn wir es richtig anstellen! Aber das bedeutet, dass wir den Grundsatz unserer Verfassung zu gleichwertigen Lebensverhältnissen ernst nehmen müssen. Wir müssen alle Regionen gleichermaßen in den Fortschritt und in die Globalisierung einbinden. Schnelles Internet überall ist ein konkretes Beispiel. Das entscheidet darüber, ob Betriebe abwandern oder vor Ort erfolgreich sein können. Und wir müssen die Mobilitätsfragen lösen, teilweise mit Digitalisierung, teilweise aber auch so, dass Begegnung und Teilnahme überall in Deutschland möglich sind, und die Menschen in ländlichen Regionen besser vom Fleck kommen. In den Städten, wo viele Menschen aneinander vorbeileben, sind Orte der Begegnung wichtig. Denn Heimatgefühl entsteht auch durch die Möglichkeit, sich an einem Ort vertraut und nicht nur als Zuschauer zu fühlen, der dem Leben zusieht.
Heimat ist für alle dasselbe?
Heimat ist die Abwesenheit von Einsamkeit. Heimat ist ein Ort, an dem man sich zu Hause fühlt, sicher fühlt. Ein Ort, an dem niemand ausgegrenzt wird. Und Heimat ist für mich auch ein Ort, an dem sich alle, auch die neu Hinzugekommenen, zu Hause fühlen. Für Heimat kann man sich entscheiden.
Was versteht die SPD unter dem Begriff „politische Heimat“?
Von allen Parteien in Deutschland bietet die SPD am längsten eine Heimat an: Seit 155 Jahren tritt die SPD für
die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ein. Das ist Antrieb und Tradition. Es geht um Begegnung mit Gleichgesinnten, den gemeinsamen Kampf für die gute Sache, Kraftzentrum der Demokratie. Was ist das denn anderes, als eine politische Heimat zu organisieren?
Und wie lässt sich diese heute noch organisieren, wo die meisten Menschen keine Zeit mehr haben, regelmäßig zum Ortsverein zu gehen?
Auch die Ortsvereine können sich den verändernden gesellschaftlichen Bedingungen nicht entziehen. Da dürfen wir nicht in der Nostalgie verharren, dass früher alles besser war. In den Ortsvereinen gibt es Reibungen, produktive Auseinandersetzung, wie sie für die politische Kultur einer Partei heute immer noch wichtig sind. Raum für Reibung und Begegnung brauchen wir aber auch zusätzlich, so wie wir sie in Debattencamps organisieren. Und der Unterbezirk ist Drehscheibe in der Partei nach unten und oben und muss dabei gestärkt werden. Aber natürlich geht es auch um Aufbruch im und ins Netz! Das läuft schleppend. Andere, rechtspopulistische Parteien machen Stimmung und Meinung und wir dürfen denen das Feld nicht überlassen. Heimat ist ja zunehmend mein persönliches Netz von Freundinnen und Freunden und Apps mobil auf dem Smartphone – da muss die SPD auch zu Hause sein.
ist Chefredakteurin des "vorwärts" und der DEMO – Das sozialdemokratische Magazin für Kommunalpolitik sowie Geschäftsführerin des Berliner vorwärts-Verlags.