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100 Jahre nach Ebert: Unzufriedene Jugend versus Merkels Optimismus

Wie gefährdet ist die Demokratie in Deutschland 100 Jahre nach Friedrich Eberts Wahl zum Reichspräsidenten? Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel sieht keine großen Parallelen zwischen Weimar und der heutigen Bundesrepublik. Die Berliner Juso-Vorsitzende Annika Klose spricht hingegen von einer großen Unzufriedenheit junger Menschen.
von Jonas Jordan · 20. Februar 2019
Annika Klose
Annika Klose

„Berlin ist nicht Weimar, aber auch nicht Bonn“, argumentiert der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel. In seinem Impulsvortrag zur Podiumsdiskussion „Mut zur Demokratie!“ anlässlich des 100. Jahrestags von Friedrich Eberts Wahl zum Reichspräsidenten sagt Merkel, die Berliner Republik sei „stabiler als Weimar und demokratischer als es jemals ein Staat auf deutschem Boden“ gewesen sei. Merkel stellt sich bewusst den Abgesängen, wonach die Demokratie in Deutschland auf Weimarer Verhältnisse zusteuere, entgegen.

Zentrum des Parteiensystems überbevölkert

Die heutigen Zustände von einem polarisierten Weimarer System entfernt. Damals waren es radikale Kräfte an den Rändern, die das politische System aushöhlten. Heute problematisiert Merkel, dass das Zentrum des Parteiensystems „überbevölkert“ sei. Zwar stehe die Demokratie unter Beschuss von rechten, antiliberalen Kräften. Gleichzeitig werde sie von starken zivilgesellschaftlichen Organisationen verteidigt, die ihren „Wächterfunktionen“ gegen Intoleranz, Korruption und Fremdenfeindlichkeit nachkämen. Auch schütze ein stark ausgeprägter Verfassungspatriotismus die Organe der Berliner Republik.

Die Berliner Juso-Vorsitzende Annika Klose ist anderer Meinung. Sie entgegnet Merkels Optimismus, dass es insbesondere bei jungen Leuten eine große Unzufriedenheit mit der Regierung gebe. Ähnlich argumentiert Tannaz Falaknaz, die gleichstellungs- und queerpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion in der Bezirksverordnetenversammlung Berlin-Pankow. Falaknaz führt die wachsende Kluft zwischen Bürgern und Politik auf „ganz gravierende Fehler der politisch Tätigen“ zurück. „Wir sehen im Alltag jene nicht, die nicht mehr politisch tätig sind.“

Merkels Altersoptimismus?

Kinza Khan ist Journalistin und hat 2010 die Initiative „Freizeithelden“ gegründet, in deren Vorstand sie bis heute tätig ist. Dass so viele Menschen zivilgesellschaftlich engagiert sind, führt sie auf das Versagen der Politik zurück. Organisationen wie die Tafeln blieben alleine mit dem Problem, dass benachteiligte Gruppen gegeneinander ausgespielt würden. „Da läuft etwas schief“, sagt Khan und zeigt sich enttäuscht von Merkels Vortrag. Möglicherweise zeige der Politikprofessor eine Form von Altersoptimismus.

Merkel antwortet süffisant: „Es gibt in Europa nur eine Minderheit, die sich gelassen diskriminieren lässt. Das sind alte, weiße Männer.“ Er führt an, dass sich in den vergangenen Jahrzehnten „elementare Dimensionen von Lebenswelten“ verbessert hätten. Beispielhaft nennt er die Geschlechtergerechtigkeit und die Rechte von Minderheiten wie Homosexuellen.

Zu hohe Hürden für Engagement

Für Kinza Khan ist das zu wenig. „Ja, wir haben viel erreicht, aber es gibt trotzdem einen Unterschied zum realen Ungerechtigkeitsempfinden. Wir leben nicht in einer solidarischen Gesellschaft, in der es allen so gut geht, dass die Demokratie stabil ist“, sagt sie. Auch Tannaz Falaknaz kritisiert, dass allgemein zu viel politisches Verständnis vorausgesetzt werde: „Es wird nicht einfacher, Politik zu verstehen. Viele wissen nicht, wo sie anfangen sollen, sich zu informieren. Deswegen sind sie desinteressiert.“

Deswegen möchte Annika Klose neue Visionen entwickeln. Sie erkennt innerhalb der jüngeren Generation keine generelle Politikverdrossenheit, wohl aber eine gewachsene Skepsis gegenüber Parteien. Als Grund dafür nennt sie auch bestehende Hierarchien: „Unsere Parteienstruktur ist immer noch stark männlich dominiert und auf Präsenzkultur ausgerichtet. Viele hören nach ihrer Juso-Zeit auf, sich in der SPD zu engagieren. Deswegen müssen wir den Blick stärker auf strukturelle Ungleichheiten legen.“ Denn für die Berliner Juso-Vorsitzende ist klar: „Es ist der Kern der Sozialdemokratie, mit Mut voranzugehen.“ 

Autor*in
Jonas Jordan
Jonas Jordan

ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo

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