Geschichte

Zum 3. Oktober: „Wiedervereinigung ist aus meiner Sicht ein Fehlbegriff“

1992 übernahm Christian Wolff die Pfarrstelle an der Leipziger Thomaskirche. Zuvor hatte er mehr als 40 Jahre in Westdeutschland gelebt. Am 3. Oktober wird Wolff die  Festrede zum Tag der Deutschen Einheit in der Frankfurter Paulskirche halten. Im Interview gibt er erste Einblicke.

von Kai Doering · 27. September 2025
Porträt des ehemaligen Pfarrers der Thomas-Kirche in Leipzig Christian Wolff

Lebte zuerst mehr als 40 Jahre im Westen und ist seit 1992 in Leipzig: der ehemalige Pfarrer der Thomaskirche, Christian Wolff

Welche Bedeutung hat der 3. Oktober für Sie?

Der 3. Oktober als „Tag der Wiedervereinigung“ ist ja ein zufällig gewähltes Datum. Helmut Kohl hat sich für diesen Tag entschieden, um ein historisch unbelastetes Datum zu haben. Der 9. November, an dem die deutsch-deutsche Grenze geöffnet wurde, wäre da nicht infrage gekommen. Ich hatte damals große Sympathien für den Vorschlag von Johannes Rau, der den 23. Mai zum Nationalfeiertag machen wollte. Als Verfassungstag hätte ich ihn für sehr geeignet gehalten, aber es ist eben auch der Geburtstag der SPD. Inzwischen habe ich mit dem 3. Oktober meinen Frieden geschlossen. Keinen Frieden geschlossen habe ich mit dem Wort „Wiedervereinigung“, denn das ist meiner Ansicht nach ein Fehlbegriff.

Inwiefern?

Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten führte 1990 zu einem neuen Deutschland. Der Begriff der „Wiedervereinigung“ übertüncht das. Es ging ja gerade nicht um die Wiederherstellung des Deutschlands nach 1945 oder gar eines Deutschlands in den Grenzen von 1937. Hinzu kommt, dass die Bedingung für dieses neue Deutschland das vereinte Europa war. Ohne die Einbettung der alten Bundesrepublik in die Europäische Union wäre die Vereinigung der beiden deutschen Staaten nicht möglich gewesen. Leider ist das den allermeisten nicht bewusst.

Christian
Wolff

Mein Blick war immer Richtung Westen gerichtet.

Sie wurden tief im Westen, in Düsseldorf, geboren und wurden im Rheinland und in Süddeutschland sozialisiert. Wie war es, als „Wessi“ 1992 nach Leipzig zu kommen?

Ich bin ein lupenreiner Wessi, sowohl was meine Sozialisation angeht als auch meine politischen Vorstellungen. Mein Blick war immer Richtung Westen gerichtet. Aufgerüttelt hat mich ein Essay von Patrick Süskind im „Spiegel“, der wie ich Jahrgang 1949 ist, und darin beschreibt, wie die 68er-Generation von der Wiedervereinigung kalt erwischt wurde. Durch diesen Essay ist mir klar geworden, dass sich gerade radikal etwas ändert in der Welt, insbesondere in Europa, während wir in Westdeutschland weiterleben, als wäre nichts geschehen. Insofern war es ein Glücksfall, dass ich durch die Anzeige eines Privatmanns auf die Situation an der Thomaskirche in Leipzig aufmerksam geworden bin.

Wo Sie 1992 die Stelle als Pfarrer angetreten haben.

Vom ersten Moment an, als ich in Leipzig aus den Zug ausgestiegen bin, wusste ich, wo in Zukunft die Weichen neu gestellt werden. Aus welchen Gründen auch immer war ich der einzige Bewerber auf die Pfarrstelle an der Thomaskirche. Ich wurde damals zu Ost-Bedingungen angestellt, das heißt, dass ich keinen Pfennig mehr Geld bekam als die anderen Kolleginnen und Kollegen in Leipzig. Viele Beamte wurden aus dem Westen ja mit üppigen Zulagen in den Osten gelockt. Mein Gehalt hat sich auf einen Schlag halbiert, was aber vollkommen in Ordnung war. Ich habe auch von Anfang an deutlich gemacht, dass ich mich nicht als DiMiDo-Beamter verstehe, also zwar im Osten arbeite, aber weiter im Westen lebe, wie viele andere das gemacht haben.

Sie wurden also von der Gemeinde und der Stadtgesellschaft nicht als „der Wessi“ angesehen?

Natürlich war ich faktisch nicht auf der gleichen Ebene. Meine West-Herkunft wurde mir aber nicht vorgehalten. Das kam erst später, wenn ich mich in Leipzig auch in politische Diskussionen eingemischt habe. Da hieß es dann schon manchmal: „Dann geh doch wieder nach drüben  (in den Westen, Anm.d.Red.) wenn es dir hier nicht gefällt.“ Was witzig ist, denn ganz Ähnliches hatte ich mir vor dem Mauerfall im Westen auch anhören müssen. Ich habe das aber eher mit Humor genommen.

Christian
Wolff

2025 ist die Biografie eines heute 50-Jährigen, egal ob in Ost oder West, zu 35 Jahren eine gesamtdeutsche.

Bei der Vereinigung 1990 gab es ja die Hoffnung, dass sich Ost-West-Unterschiede über die Generationen auswachsen würden. Inzwischen hat man den Eindruck, sie werden gerade, 35 Jahre später, wieder größer. Wie sehen Sie das?

Ich glaube, da gibt es gewisse Schieflagen in der Wahrnehmung. Das Ostsein wird ja auch gern von außen betont, wenn es etwa heißt, die Biografien der Ostdeutschen müssten stärker wahrgenommen werden oder wir bräuchten mehr Ostdeutsche in Führungspositionen. Das war und ist teilweise sicher beides richtig, aber damit wird eher das Trennende und nicht das Gemeinsame betont – wobei das Gemeinsame immer auch Unterschiedlichkeit beinhaltet. 2025 ist die Biografie eines heute 50-Jährigen, egal ob in Ost oder West, zu 35 Jahren eine gesamtdeutsche. Und die meisten Probleme, die Deutschland hat, betreffen das ganze Land. Insofern entbehrt diese Debatte nicht einer gewissen Komik.

Ihre Rede in der Paulskirche wird über der Überschrift stehen: „Osterweiterung – 35 Jahre Leben im neuen Deutschland. Erfahrungen und Perspektiven“. Welche Akzente werden Sie darin setzen?

Ich werde mit einer der wichtigsten Figuren der Revolution von 1848 beginnen: mit Robert Blum. Das wirkt vielleicht weit hergeholt, wenn es um die Friedliche Revolution und die Wiedervereinigung 1990 geht. Aber als ich 1991 das erste Mal in Leipzig war, entdeckte ich am Alten Rathaus eine Gedenktafel für für Robert Blum. Auf dieser ist zu lesen: „Robert Blum, dem Kämpfer für ein geeintes, demokratisches Deutschland zum Gedenken“. Danach habe ich angefangen, mich mehr mit ihm zu beschäftigen. Dieser aufrechte Demokrat wurde 1848 in Wien erschossen, und zwar am 9. November.

Und von ihm werden sie den Bogen zu 1989/1990 schlagen?

Genau, und zwar zunächst autobiografisch. Ich habe die Friedliche Revolution im Oktober 1989 vor dem Fernseher erlebt, weil ich mir beim Fußballspielen mit Konfirmanden den Fuß gebrochen hatte. Das fand ich sehr symbolträchtig. Patrick Süskinds schreibt in seinem über uns 68er: „Auf Potenzstörungen wären wir vorbereitet gewesen, auf Prostata, Zahnersatz, Menopause, auf ein zweites Tschernobyl, auf Krebs und Tod und Teufel. Bloß nicht auf Deutschland einig Vaterland.“ Das galt auch für mich. Aber ich konnte und wollte damit nicht meinen Frieden schließen. Ich wollte nicht zu den „eigentlichen Greisen“ gehören, von denen Süskind im Blick auf die 68er sprach.

Christian
Wolff

Die Probleme, die wir heute in Bezug auf den Umgang mit der Demokratie haben, werden dadurch nicht kleiner oder größer, ob man ostdeutsch oder ob man westdeutsch sozialisiert ist.

Schon damals gab es den Vorschlag, das Grundgesetz durch eine gemeinsame Verfassung zu ersetzen. Auch über eine neue Hymne wurde diskutiert. Bundestagsvizepräsident Bodo Ramelow hat diesen Vorschlag im Sommer wieder aufgegriffen. Was halten Sie davon?

Davon halte ich nichts. 1990 war ich auch für eine neue Verfassung, habe mich aber im Laufe der Zeit eines Besseren belehren lassen. Die Menschen in Ostdeutschland wollten so schnell wie möglich die Vereinigung, was ich auch absolut legitim finde. Ein Verfassungsprozess hätte das Vereinigungsgeschehen in die Länge gezogen. Ein Detail möchte ich in diesem Zusammenhang noch nennen, auf das ich auch in meiner Rede eingehen werden: In dem Artikel des Grundgesetzes, nach dem die Vereinigung 1990 vollzogen wurde, ist heute die Verankerung Deutschlands in der Europäischen Union geregelt. Das ist Artikel 23. 

35 Jahre später wäre ja aber die Zeit, die es 1990 nicht gab.

Das stimmt, aber 35 Jahre später sehe ich dafür keine Notwendigkeit mehr. Mit einer neuen Hymne und möglicherweise auch einer neuen Fahne will Bodo Ramelow ja einen neuen Aneignungsprozess der Demokratie unter den Ostdeutschen erreichen. Den brauchen wir aber in ganz Deutschland. Die Probleme, die wir heute in Bezug auf den Umgang mit der Demokratie haben, werden dadurch nicht kleiner oder größer, ob man ostdeutsch oder ob man westdeutsch sozialisiert ist. Mit einer neuen Hymne ist es also nicht getan. Wir benötigen in ganz Deutschland gerechte Teilhabe an Bildung, Arbeit, Einkommen, Wohnen und demokratisches, bürgerschaftliches Engagement aller Bürgerinnen und Bürger.

 

Feierstunde zum Tag der Deutschen Einheit in Frankfurt

Begrüßung
Oberbürgermeister Mike Josef

Festvortrag
Pfarrer i.R. Christian Wolff
„Osterweiterung – 35 Jahre Leben im neuen Deutschland. Erfahrungen und Perspektiven“

Podiumsdiskussion
„35 Jahre Wiedervereinigung – gemeinsamer Blick auf die Erfahrungen von West- und Ost-Deutschland“

Anna Kassautzki, Politikwissenschaftlerin, Aktivistin und MdB a.D. (Greifswald) – Astrid Baumann, ehemalige Präsidentin des OLG Thüringen – Christian Wolff, Pfarrer i.R., Leipzig, Moderation: Marion Kuchenny, Hessischer Rundfunk

Eine Anmeldung ist hier möglich.

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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