Die Natur hatte ihn nicht zum großen Rhetoriker bestimmt. Er verfügte nicht über die geschliffene Formulierungskunst, mit der Helmut Schmidt noch heute jeden Kontrahenten (wenn es den noch gäbe) in Grund und Boden reden kann. Nicht über die intellektuelle Brillanz, mit der Fritz Erler, dieser (fast vergessene) große Sozialdemokrat, die schwierigsten Probleme zu durchleuchten wusste. Nicht über die klassisch-romanische Kunst eines Carlo Schmid, der (wie man sagte) auch auf Glatzen Locken zu drehen verstand. Nicht über die Peitschenhiebschärfe, mit der Herbert Wehner, „Zuchtmeister“ der Partei, sein Publikum zwang, sich ängstlich zu ducken. Nicht über das lutherische Pathos eines Eugen Gerstenmaier.
Seine Stimme war rau. Er reihte die Wort nicht spielerisch aneinander, sondern in der Regel bedächtig und schwer, wie es seiner niederdeutschen Prägung, wohl auch der skandinavischen Gewohnheit entsprach. Die Mühe, mit der er sich manchmal voranpflügte, oft stockend, vermittelte freilich seinen Zuhörern das gute Gefühl, dass sie an der Formung der Gedanken teilnahmen. Das verschaffte ihm eine hohe Aufmerksamkeit. Hier war keiner, der den Leuten eine fertige Meinung servierte, die keine Fragezeichen zuließ. Selbst wenn er eine sorgfältig ausgefeilte Rede vom Manuskript vortrug, schien immer ein Element der Spontanität, ja der Improvisation mitzuschwingen, das den Leuten Raum zum Atmen und die Freiheit des Mitdenkens sicherte.
Er konnte „holzen“
Sie wurden nicht von dem Eindruck überwältigt, dass sie mit einem der notorischen Monologisten konfrontiert waren, die unsere politischen Debatten veröden, dass sie vielmehr einem Menschen begegneten, der das Gespräch suchte. Einem, der den Zweifel erlaubte – und gerade darum überzeugte. Einem Mann, der niemals von oben nach unten dozierte, sondern die gleiche Augenhöhe riskierte, ja oft genug das Publikum – mit dem Blick von unten nach oben – um eine Spur erhöhte: Er hob das Niveau – eine Wohltat für das Selbstgefühl. Die Leute schätzten es, dass der Redner sie nicht für dümmer hielt, als sie’s waren, sondern für wenigstens so gescheit, wie er’s selber war.
Er konnte „holzen“, wie er es nannte, ob im Wahlkampf oder in einer polemischen Debatte, innerhalb und außerhalb der Partei. Indes, sein Spott war niemals kränkend (wie es Herbert Wehners Opfern so oft widerfuhr). Er war oft genug böse diffamiert worden: Darum hütete er sich, die Persönlichkeit zu verletzen. Auf die Andeutung, dass er die Schwächen des anderen durchaus kannte, verstand er sich durchaus – aber er war fair genug, sie nicht auf billige Weise zu nutzen. Gegnern wich er nicht aus. Auch nicht den Feinden: das waren die Gewaltvergötzer auf der Rechten und Linken, die Menschenverächter, die Demokratiezerstörer, die totalitären Ideologen, die selber keine Gegner kannten, sondern nur Feinde.
Er nahm das Wort genau
Er mied die vorgestanzten Phrasen, und Standardformeln, die Politiker und ihre Verlautbarer, die PR-Manipulierer, Tag für Tag, ja Stunde für Stunde produzieren. Er nahm das Wort genau. Er führte es, wenn es anging, auf seine Ursprünglichkeit zurück. Vielleicht kam ihm dabei sein erstaunliches Sprachtalent zugute: der souveräne Umgang mit den skandinavischen Sprachen, die ihn die Abwägung von Nuancen gelehrt hatten, sein bravouröses Englisch, das er vielleicht nicht ganz so geschliffen präsentierte wie Helmut Schmidt (doch niemals als eine „Fremdsprache“), sein bemerkenswertes Französisch, die lebhaften Erinnerungen an das Spanische, das er zu Zeiten des Bürgerkrieges gemeistert hatte.
Er wusste, dass Sprachen Spiegel der Seelen sind, der Beschaffenheit des Charakters, der historischen Erfahrungen. Darum seine Sorgsamkeit mit den Worten (auch als Redakteur). Er hatte eine Sprache, weil er sich’s mit dem Wort schwermachte. Sie ist sein Monument. Politik aber vollzieht sich durch die Sprache. Umso alarmierender die Sprachlosigkeit der Generation, die uns heute regiert.
ist preisgekrönter Journalist und Autor. Von 1972 bis 1974 war er Redenschreiber für Willy Brandt.