Wie der „Neue Vorwärts“ nach dem Krieg die Arbeit aufnahm
Am 11. September 1948, vor dem 3. Parteitag der SPD im Düsseldorfer Planetarium, erscheint der „Neue Vorwärts“, wie er bis 1955 heißt. 1,20 DM kostet die Wochenzeitung monatlich im Abonnement. Papier ist teuer, so begnügt man sich mit 12 eng bedruckten Seiten mit wenigen Fotos. Wie schwierig es damals ist, eine Lizenz für die Neugründung zu bekommen, beschreibt Hermann Schueler in seinem Buch „Trotz alledem. Der Vorwärts – Chronist des anderen Deutschland“: „Das Verfahren war eine Zumutung. Dem Antrag mussten ausführliche Personalangaben nach Fragebogenart für die ins Auge gefassten Herausgeber, Redakteure und Verlagsleiter beigefügt werden.“
Besonders empört die Sozialdemokraten damals, dass ein ausgewiesener Hitler-Gegner wie Kurt Schumacher, der zehn Jahre lang in Konzentrationslagern gelitten hat, seine weiße Weste beweisen soll. „Um die Farce zu vollenden“, schreibt Schueler, „wurden die Personalangaben allen Ernstes im US-Document-Center, der Sammelstelle für Nazi-Personaldokumente, und in den Archiven der Reichskulturkammer überprüft.“ Dies geschieht übrigens in einer Zeit, in der der KZ-Massenmörder Mengele unter seinem richtigen Namen unerkannt ein amerikanisches Kriegsgefangenenlager verlassen kann.
Ein später Start nach dem Krieg
Auch diese demütigende und zeitaufwendige Prozedur mag ein Grund dafür sein, dass der „Neue Vorwärts“ erst mehr als drei Jahre nach Kriegsende erscheint. Doch das ist nicht die einzige Erklärung. Hermann Schueler erinnert sich: „Bei allen objektiven Schwierigkeiten, die sich der Zulassung in den Weg stellten: Dies war wohl auch ein Zeichen der veränderten Verhältnisse. Am Beginn der Parteigeschichte war die Zeitung ein wichtiges Instrument zur Bewusstwerdung und zur Sammlung der Menschen gewesen.“ Anders nach dem Zweiten Weltkrieg: Die SPD hat nach den Jahren der Diktatur und des Verbots starken Zulauf. Die Zahlen sind beeindruckend: Während der „Neue Vorwärts“ zunächst nur eine Auflage von 13.000 Exemplaren im Abo- und im Kioskverkauf hat, zählt die SPD mehr als 600.000 Mitglieder. Schuelers Kommentar dazu lautet: „Es soll der Stoßseufzer manches Parteigewaltigen gewesen sein: ‚Wenn die alle Leser wären!‘“
Unter der Rubrik „In eigener Sache“ ist in der ersten Ausgabe dennoch selbstbewusst zu lesen: „Wir wollen nicht nur im Namen die Tradition aufnehmen, die im Frühjahr 1933 von den Nazis brutal unterbrochen wurde. Es hat lange, zu lange gedauert, bis Deutschlands größte und für die Zukunft entscheidende Partei die Möglichkeit wieder erhalten hat, sich ein zentrales Blatt zu schaffen.“ Themen gibt es genug und die Redaktion verspricht: „Wir werden das unverbindliche Plaudern und die unerheblichen Sensationen neidlos anderen überlassen. Wer unser Blatt in die Hand nimmt, wird einen Blick in diese Zeit tun, die voll von ungelösten Fragen, unbesiegten Gefahren, ungesühnten Verbrechen und unerfüllten Vorsätzen ist.“
Schwerer Stoff und eindeutige Erwartungen
Diese erste Ausgabe ist durchaus bunt und lesenswert: Man erinnert stolz an Otto Wels, sein Nein zum Ermächtigungsgesetz am 23. März 1933 und seinen berühmten Satz: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, aber die Ehre nicht!“ Ein kluger Artikel beschäftigt sich mit der rechtlichen und wirtschaftlichen Situation der Frauen. Das neue, alte Blatt der SPD knüpft sofort an die Tradition an, sich international zu zeigen: Themen sind Labour in England, die Unterdrückung der Sozialdemokraten in Ungarn, die Rebellion Titos gegen Stalin.
Doch schon in der zweiten Ausgabe zeigt sich, dass man den Genossen viel, vielleicht zu viel abverlangt. Hochgelehrte Artikel zu den Grundrechten und zu den Vereinten Nationen, zum Verfassungsproblem, zu Bund und Länder, durchgehend schwerer Stoff. Man hätte sich auch – oder gerade – in diesen schweren Zeiten ein wenig Leichtigkeit gewünscht. Erster Chefredakteur ist Gerhard Gleissberg. Er war schon in der Weimarer Republik Redakteur des „Vorwärts“ und arbeitete während des Exils in Prag und London als Journalist für den Exil-Parteivorstand. Herausgeber ist Fritz Heine, der auch schon vor 1933 beim „Vorwärts“ war und dann für den Exil-Vorwärts arbeitete.
In dem sehr lesenswerten Buch „Zwischen Markt und Parteiräson – Die Unternehmensgeschichte des ‚Vorwärts‘“ beschreibt Jens Scholten das Dilemma aller Parteizeitungen für die dort arbeitenden Journalisten. Zum einen ist es immer schwierig, gute Leute zu überzeugen, denn wer einmal den Stempel „Parteischreiber“ hat, der tut sich schwer mit jedem Arbeitsplatzwechsel. Aber es gibt auch hausgemachte Probleme: „Anfangs war allen Mitarbeitern ... klar, dass es sich bei den Vorwärts-Redakteuren eher um Angestellte des Parteivorstands als um kritisch-distanzierte Beobachter (im Sinne der Presse als einer weiteren Macht im Staate) handelt. Allerdings enthält der Anstellungsvertrag des ersten Chefredakteurs keine Bestimmungen zu politischen oder inhaltlichen Bindungen. Loyalität wird vorausgesetzt.“ Zwar versprechen die zur Parteispitze gehörenden Herausgeber, dass die Parteiführung keine direkten Anweisungen geben werde, aber: Man erwarte, „dass die Redakteure‚ die gemeinsam erarbeitete und beschlossene Politik auch publizistisch vertreten.“
Streit um den Kurs
Dies wird dem ersten Chefredakteur nach dem Krieg zum Verhängnis. Der Emigrant und Linkssozialist Gerhard Gleissberg möchte die neue Parteilinie – das Ja zur Wiederbewaffnung – nicht mittragen und befindet sich damit übrigens im Einklang mit vielen Genossen. Doch dem Chefredakteur des Parteiblattes wollen Herausgeber und Parteivorstand das nicht durchgehen lassen. Man trennt sich 1955 und zwar nicht einvernehmlich.
Nachfolger wird der prominente Sozialdemokrat Josef Felder aus Bayern. Er soll und will den „Neuen Vorwärts“ modernisieren. So lange es um Äußerlichkeiten geht, hat Felder die Unterstützung der Partei: Besseres Layout, mehr Bilder, gute Karikaturen und vor allem: Aus dem „Neuen Vorwärts“ wird wieder der „Vorwärts“. Aus dem Untertitel „Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands“ wird die „Sozialdemokratische Wochenzeitung.“ So weit, so gut.
Doch wenn es um politische Inhalte geht, kommt es immer wieder zu Ärger zwischen Redaktion und Partei. Josef Felder findet sich ständig in der Rolle des besänftigenden Vermittlers. Er ist wohl nicht undankbar, als ihm ein Bundestagsmandat angetragen wird, schreibt Hermann Schueler und benennt die Hauptreibungspunkte: Während Felder eine von Parteieinflüssen freie, von sozialdemokratischen Journalisten geleitete Zeitung will, sieht nicht nur die Führung der SPD das anders. „Funktionäre der untersten Ebene versuchten nach wie vor in das Blatt hineinzuregieren. Artikel würden aufgedrängt und im Weigerungsfall drohte man mit Beschwerden bei der Parteiführung“, so Schueler.
Blättert man in den alten Ausgaben, dann ist man dennoch positiv überrascht von diesem Nachkriegs-Vorwärts. Das Blatt hat gute Schreiber und ist kämpferisch.
Wenig überraschend ist, dass die Diskussionen darüber, welche Linie der „Vorwärts“ haben soll – und wer darüber entscheidet – nie aufgehören, wohl auch nicht aufhören können.
(† 2023) war freie Journalistin in Bonn und Erhard-Eppler-Biografin.