Geschichte

Übers Niederknien

von Birgit Güll · 14. Dezember 2010
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Willy Brandts Kniefall vor dem Warschauer Mahnmal für die jüdischen Opfer des Ghetto-Aufstandes von 1943 wird heute als historischer Moment, als Anerkennung deutscher Kriegsschuld, als Grundstein der Entspannungspolitik gewertet. 1970 waren Brandts Geste und die Unterzeichnung der deutsch-polnischen Verträge in der westdeutschen Öffentlichkeit heftig umstritten.

Schelte von Springer

Eine Umfrage, die das Allensbacher Institut im Auftrag des "Spiegel" durchführte, ergab im Dezember 1970, dass 41 Prozent der Befragten den Kniefall angemessen fanden, während 48 Prozent ihn für eine übertriebe Geste hielten. Elf Prozent enthielten sich. Bürgerliche und linke Leitmedien folgten mehrheitlich der Argumentation der Bundesregierung, wie Herausgeber Alexander Behrens in der Einleitung des Bandes schreibt.

Ganz anders die "Bild"-Zeitung. Der Historiker Behrens zitiert Peter Boenisch, der am 13. Dezember 1970 in dem Blatt schrieb: "Dieses katholische Volk weiß, dass man nur vor Gott kniet. Und da kommt ein vermutlich aus der Kirche ausgetretener Sozialist aus dem Westen und beugt die Knie. Das rührt das Volk. Aber rührt es auch die Opfer des Stalinismus?"

Die Korrespondenten des Springer-Verlags berichteten anerkennend, wie der Behrens schreibt. Doch Axel Springer selbst ätzt über die Unterzeichnung des Vertrages am 8. Dezember in der "Welt": "Eine kommunistische Regierung wird von einer aus freien Wahlen hervorgegangenen deutschen Regierung ermächtigt, ein Stück Deutschland zu annektieren."

Friedensnobelpreis

Die westeuropäische, die israelische und die amerikanische Presse würdigen Brandts Politik. Ende 1970 wählt das US-amerikansiche Magazin "Time" Willy Brandt zum Mann des Jahres. 1971 erhält der Sozialdemokrat den Friedensnobelpreis. Heute bestreiten nur noch Ewiggestrige die Bedeutung von Brandts Geste. Behrens Dokumentation "Durfte Brandt knien?" zeigt anhand zahlreicher Originaldokumente - von Reden über Zeitungsartikel bis hin zu Briefen - deutlich, wie Politik und Presse 1970 regierten. Das Buch ist ein besonders lesenswerter Beitrag zum 40. Jubiläum des Kniefalls.

Alexander Behrens (Hg.): "Durfte Brandt knien? Der Kniefall in Warschau und der deutsch-polnische Vertrag. Eine Dokumentation der Meinungen", Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Bonn, 2010, 150 Seiten, 14,90 Euro, ISBN 978-3-8012-0404-4

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Autor*in
Birgit Güll

ist Redakteurin, die für den „vorwärts“ über Kultur berichtet.

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