Geschichte

"Niemand konnte sich vorstellen eine Mauer zu haben"

von Jörg Hafkemeyer · 13. August 2011
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vorwärts.de: Herr Bahr, wie muss man sich die Lage in Berlin vor 50 Jahren, Ende Juli, Anfang August 1961 vorstellen?

Egon Bahr: Es war eine angespannte Situation. Schon deshalb, weil natürlich niemand übersehen konnte, dass die Zahl derer, die für 20 Pfennig mit der S-Bahn von Ost nach West kamen, nicht ewig so weiter gehen konnte. Es war ein fast nicht mehr vorstellbarer Zustand. Das Normale im Unnormalen. 40 000 Menschen kamen jeden Tag aus dem Ostsektor zur Arbeit nach West-Berlin.

 

Aber hieß das notwendigerweise, dass die DDR die Grenzen in der Stadt zu machen würde?

Niemand hat sich vorstellen können, eine Mauer dort zu haben. Wir haben uns allenfalls vorstellen können, dass der Osten eine Polizeisperre macht zwischen der Zone und Ost-Berlin und außerdem eine zweite zwischen Ost- und West-Berlin. Um durch diese beiden sich ergänzenden Kontrollmechanismen eine große Fluchtbewegung zu stoppen.

 

Ich möchte auf die Rede des damaligen US-Präsidenten John F. Kennedy Ende Juli 1961 zu sprechen kommen. Er vertrat in dieser Rede die Position, für die drei Westsektoren der Stadt einzutreten, nicht aber für das Offenhalten des gesamten Berlin.

 

Es war eigentlich ein Schock. Wir haben natürlich vorher gewisse Anzeichen gehabt. In Oslo war im April 1961 eine NATO-Konferenz und als ich das Kommunique las bin ich zu Willy Brandt gelaufen und habe gesagt, jetzt hat die Sowjetunion im Grunde eine Vollmacht, mit ihrem Sektor zu machen was sie will. Denn, da war plötzlich nicht mehr vom Vier-Mächte-Statut oder -Regelungen die Rede, sondern von der Lebensfähigkeit der drei West-Sektoren, also West-Berlins.

 

Es ist ja nicht allein bei dieser NATO-Konferenz und bei dieser Rede von Präsident Kennedy geblieben. Der US-Chefunterhändler für Abrüstungsfragen, John McCloy, reist Anfang August ans Schwarze Meer und trifft dort in seinem Feriendomizil in Pizunda auf den ZK-Vorsitzenden der KPdSU, Nikita S. Chruschtschow.

 

Wir haben natürlich auch gewusst, dass McCloy, der lange Jahre Hochkommissar in Deutschland war, auf der Krim war und mit Chruschtschow Tennis gespielt hat. Die haben aber nicht nur Tennis gespielt. Einzelheiten hatten wir natürlich nicht.

 

Unterdessen stiegen die Flüchtlingszahlen in diesem Sommer 1961 monatlich, wöchentlich, täglich.

 

Die kannten ja ihre Zahlen selbst genau genug im Osten. Und es ist völlig klar und wird heute nicht mehr bestritten, dass Walter Ulbricht Chruschtschow gedrängt hat, die Genehmigung zu bekommen, zu zu machen. Und die hat er endlich nach langem Drängeln bekommen. Ungefähr fünf Wochen bevor das passierte.

 

In jenem Sommer begann der Wahlkampf. Der junge Willy Brandt gegen den alten CDU-Kanzler Konrad Adenauer. Kommen wir zum Tag als die Grenze von der SED-Führung dicht gemacht wurde. Wo waren Sie?

 

Noch in Nürnberg auf dem Parteitag. Wo der Wahlkampf beginnen sollte. Dann wurde ich in der Nacht geweckt: Komme sofort nach Berlin. Die sperren den Sektor ab. Was ich auch tat. Es war ein wundervoller, blauer Sommertag und Willy Brandt kam ins Büro - wütend wie ich ihn fast nie gesehen habe. Hat auf die Stadtkommandanten geschimpft und zum ersten und einzigen Mal in seinem Leben war er in der Leitkommandantur, wo noch das Bild des sowjetischen Kommandanten hing und musste folgendes feststellen: Diese hoch mögenden Inhaber der unkündbaren Siegerrechte hatten keine Anweisungen. Und wir haben natürlich realisiert, dass in ihren Hauptstädten alles schön im Urlaub war.

 

Noch einmal nachgefragt: Wie war denn schließlich die Reaktion der Westmächte?

 

Interessant wurde die Sache erst in dem Augenblick, in dem die Stacheldrahthindernisse gebaut wurden. Die Mauer wurde nicht am 13. August gebaut. Sondern, der Osten wartete ab, wie der Westen reagiert. Und nachdem der Westen müde Proteste geschickt hat - 72 Stunden hat es gedauert, bis von der Ebene der Stadtkommandanten über die der Hochkommissare bis zu den Hauptstädten Proteste geschickt worden waren, die, wie mir damals nicht auffiel, muss ich gestehen, die Beseitigung der Stacheldrahthindernisse überhaupt auch nur gefordert haben.

 

Wie hat der Regierende Bürgermeister Willy Brandt darauf reagiert?

 

Es war eine Situation, in der Willy Brandt einen Brief an Kennedy schrieb: "Die Stimmung in der Stadt ist so, dass Worte allein nicht mehr helfen. Hier müssen Aktionen her." Und er hat Mehreres vorgeschlagen. Einen Punkt hat Kennedy sofort auf genommen: Er hat eine 1 500 Mann starke Kampftruppe von Marienborn nach Dreilinden geschickt, um die Stimmung wiederherzustellen. Die Soldaten wurden von den Berlinern aufgenommen wie heimkehrende Söhne aus einem siegreichen Krieg.

 

Hat US-Präsident Kennedy das Schreiben Willy Brandts beantwortet?

 

Der amerikanische Präsident schrieb, diese Mauer ist nur durch Krieg zu beseitigen. Krieg will niemand. Sie auch nicht. Aber im Übrigen ist es eine Niederlage des Ostens. Denn, eine Idee, die auf Weltgeltung eingestellt ist, kann nicht ihre eigenen Leute einmauern. Und zum anderen werden die das noch bereuen.

Das haben wir als graue Salbe betrachtet, haben dann aber später festgestellt: Im Prinzip hatte der Kennedy Recht. Aber unmittelbar war bei uns nicht nur der Schock, sondern der Schmerz.

 

Zum Schluss. Was bedeutet der Mauerbau für Deutschland?

 

Es ist der Markstein der Deutschen Geschichte. Und zwar deswegen, weil er uns gezwungen aber auch befähigt hat, das zu entwickeln, was man später Ost- und Entspannungspolitik nannte.

 

Interview: Jörg Hafkemeyer

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Autor*in
Jörg Hafkemeyer

ist Journalist, Gast-Dozent für Fernsehdokumentation und -reportagen an der Berliner Journalistenschule und an der Evangelischen Journalistenschule in Berlin sowie Honorarprofessor im Studiengang Kulturjournalismus an der Berliner Universität der Künste (UdK).

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