Geschichte

Klassenkampf oder Partei der Mitte?

von Andreas Herrmann · 26. September 2011
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Zwar blieb der Klassenkampf weiter Leitmotiv, verabschiedet hatte man sich in Görlitz aber von der Vorstellung des naturgegebenen Verlaufs der Geschichte zum Sozialismus. Die SPD wählten damals nicht nur die Proletarier, sondern auch die Angehörigen der aufgestiegenen Mittelschicht.

Arbeiter und Angestellte
Dieses historische Ereignis haben die Görlitzer Genossen zusammen mit dem Forum Ostdeutschland e.V. nun gewürdigt. Dabei war es kein Zufall, dass Wolfgang Tiefensee als Vorsitzender seine Begrüßung mit einer "Liebeserklärung" an Görlitz schmückte. Er studierte in jungen Jahren in Görlitz und so gab es auch ein herzliches Wiedersehen mit seinem früheren Lehrer, dem Hochschulprofessor und ehemaligen SPD-Oberbürgermeister Prof. Dr. Karbaum.

"Der Görlitzer Parteitag vor 90 Jahren hatte die Öffnung der SPD zum Ziel. Das gilt auch für heute", sagte Wolfgang Tiefensee. Er versprach, sich weiterhin intensiv für die Belange Ostdeutschlands einzusetzen. Thomas Jurk, Vorsitzender des SPD-Kreisverbandes Görlitz, verwies mit Blick auf das Jahr 1921 darauf, dass diese Zeit den Beginn der so genannten goldenen 20er Jahre markierte. Die SPD habe damals um ihren Standort ringen müssen. Ein klares Profil auch in Abgrenzung zu den politischen Mitbewerbern sei wichtig gewesen. Die Begriffe Revisionismus und Reformismus seien später von der SED negativ belegt worden, weil dies auch mit Kritik am Marxismus-Leninismus verbunden war und Schwächen des herrschenden Systems aufgezeigt hätte.

Zwischen 1946 und 1989 hatte es Versuche gegeben, die SPD in Görlitz wiederzugründen. So rief am 17. Juni 1953 auf dem Obermarkt der Görlitzer Franz Latt zur Neugründung der Partei auf. Wegen des niedergeschlagenen Arbeiteraufstandes kam es jedoch nicht dazu. Nach der Wende seien es Persönlichkeiten der ersten Stunde wie Norbert Starke und Michael Prochnow gewesen, die zum Wiederaufbau der SPD entscheidend beitrugen, so Jurk.

Arbeiterbewegung als Gegenwelt der Herrschenden

"Für eure Beiträge hättet ihr von mir auf jeden Fall eine gute Note bekommen", wertete die Historikerin Prof. Dr. Helga Grebing lobend die Ausführungen der beiden Politiker und erntete dafür schmunzelnden Beifall der rund 50 Gäste. In ihrem Festvortrag analysierte die Professorin den Parteitag vom 1921 mit seinen Auswirkungen für die weitere Entwicklung der Sozialdemokratie.

Der Görlitzer Parteitag habe die Rolle der SPD als eigentliche demokratische Staatspartei verdeutlicht. Da die Geschichte von Görlitz unmittelbar mit der ersten industriellen Revolution und der Entwicklung von Textilindustrie, Tabakwaren und später dem Maschinenbau verbunden war, entwickelte sich hier ein lebendiges Arbeiterleben. Die Antwort der Arbeiterbewegung auf den sich damit entwickelnden Kapitalismus sei eine selbstbewusste "Gegenwelt" zur Welt der Herrschenden in Form von Vereinen im Bereich des Sports oder der Kultur gewesen.

"Damals ist in Görlitz etwas ganz wichtiges hinzugekommen", sagte Helga Grebing. Die SPD in Görlitz sei gut organsiert gewesen und stellte gute Repräsentanten, die aber auf die weitere Entwicklung hin zu Nationalsozialismus und dem 2. Weltkrieg wenig Einfluss nehmen konnten. Bei der Wahl von 1932 hatte die SPD in Görlitz 18.000 Stimmen, gegenüber 21.300 für die NSDAP und 5000 für die KPD. "Die SPD hat eine lang geprägte Geschichte und keine überholte Idee oder Grundwerte. Es lohnt sich dafür zu kämpfen", schloss die Wissenschaftlerin ihren Vortrag.

Geschichte der Görlitzer Sozialdemokratie als Wanderausstellung

Erstmalig vorgestellt wurde während der Veranstaltung eine Wanderausstellung, in der wichtige Sozialdemokraten wie Johanna Dreyer, Paul Taubadel oder Hugo Keller gewürdigt werden, die einst in der Stadt wirkten. Auch der spätere Reichskanzler Hermann Müller, der als Redakteur bei der "Görlitzer Volkszeitung" arbeitete, oder der Metallarbeiter Otto Buchwitz, Gewerkschaftssekretär und SPD-Sekretär für ganz Niederschlesien, prägten die Geschichte der Görlitzer Sozialdemokratie. Heute finden sich diese Namen in einigen Straßenbezeichnungen in Görlitz wieder.

"Die Infotafeln sollen nun nach dem Jubiläum des 20. Jahrestages der Neugründung der SPD in Görlitz zu bestimmten Veranstaltungen in der Stadt präsentiert werden", informiert Gerhild Kreutziger, Vorsitzende des SPD-Ortsvereins Görlitz. Sie stellte zum Abschluss der Veranstaltung die Frage, was mit Rosa Luxemburg geworden wäre, wenn man sie nicht ermordet hätte. Wäre sie zur Sozialdemokratie zurückgekehrt? - Ein Gedanke, der im historischen Jacob-Böhme-Saal in der Görlitzer Altstadt am Veranstaltungsabend noch für lange Diskussionen bis in die späte Nacht hinein sorgte.

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Andreas Herrmann

arbeitet als Journalist für die Sächsische Zeitung im Raum Görlitz sowie für bundesweite Medien zu den Themen Frieden und Entwicklungspolitik. In der SPD engagiert er sich als Ortsvereinsvorsitzender in Löbau sowie als Sprecher des Kulturforums Lausitz.

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