Geschichte

„Es ist wieder an der Zeit, ein Flugblatt zu schreiben“

von Frank Blenz · 4. Oktober 2010
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Oktober 2010: Die Nachrichten und Fakten fliegen Jörg Schneider in diesen Wochen und Monaten nur so um die Ohren. Es weht der Hauch von Aufbegehren, Protest und Nachdenken durch die Lande, es ballt sich die Faust in der Tasche. Er freut sich darüber, er der "alte unauffällig auffällige Revolutionär". Weshalb diese Stimmung der Menschen? Weil die Leute, die die großen, wichtigen, entscheidenden Hebel im Staat festhalten und die die großen, wichtigen, systemrelevanten Besitztümer besitzen, beide Faktoren unverantwortlich einsetzen. Die Bürger auf der anderen Seite wollen nicht mehr ruhig sein.

Rückblick bis ins Heute (I): Jörg Schneider aus Plauen (Vogtland) in Sachsen freut sich über das Jubiläum 20 Jahre Deutsche Einheit. 20 Jahre Leben in einem anderen, geeinten Land, in dem aus zwei Teilvölkern wieder eines geworden ist, macht ihn froh. "Ich habe schon Ende 1989 aus der Formulierung "das Volk" in einem zweiten Aufruf "ein Volk" formuliert", erinnert sich der jetzt 41-Jährige. Er ahnte damals, dass die DDR endete, dass das Land eines werde. "Dass die sich öffnenden Spitzenleute sich in Berlin im November zu einer Großdemo auf das Podium hinstellten und die Republik restauriert erhalten wollten, fand ich nicht in Ordnung. Stefan Heyms und Christa Wolfs Reden musste etwas entgegen gesetzt werden. Die wollten die Einheit nicht, viele andere Menschen, ich auch, schon." Das Wort "ein Volk" von Schneider wird ein geflügeltes. Bei den Plauener Demos (jeden Samstag mit bis zu 30.000 Leuten) wurde es fortan (bis Frühjahr 1990) oft skandiert.

Oktober 2010: Schneider ist sauer. Da werden Reformen verabschiedet, die das Wort (was Verbesserung heißen soll) nicht verdienen. Es mehren sich Reichtum, dagegen auch mehr und mehr die Armut (an Material, Geld, Güte, Mitgefühl, Anerkennung, Zugehörigkeit), der Einfluss der Hebelinhaber steigt, die Ungeniertheit der Großbesitzenden und die schleichende Entsolidarisierung im Land grassieren, das Jörg Schneider auch als seines empfindet, auf das er stolz ist. Er ist ein aufrechter, mündiger Bürger, der jedoch an seiner Mündigkeit, an seiner Macht (des Volkes) zweifelt. Worte wie "die machen eh was sie wollen" (Schneider meint Regierung, Wirtschaft, Banken, gesellschaftliche Institutionen und die Haupt-Medien) lassen ihn aber nicht still sitzen. Irgendwie ist was dran, wenn man auf Volkes Maul schaut, kommt er ins Grübeln. "Es gibt viele, die sich wehren wollen, die aber kaum Chancen auf Erfolge ihrer Einwände sehen."

Da ist das Demonstrieren, sich an Bäume ketten, Transparente malen und hochhalten, Nächte lang ausharren wie in Stuttgart gegen ein gigantisches Vorhaben namens Stuttgart 21 - es wird mit Pfefferspray weg gesprüht. Dort die friedliche Umkreisung des Bundeskanzleramtes, hunderttausend Leute sagen, Nein, keine Atomkraft mehr - es wird anderes beschlossen. Bankenrettungen, Bonizahlungen, Exportweltmeister. "Es ist schon was los bei uns", meint Schneider ruhig und gefasst und doch sieht man ihm an: Es brodelt. Die andere Seite sieht er: Prekariat, Niedriglöhne, Bildungsnotstand, Hartz IV, letzteres ist ein schlimmes Unwort (und dessen Inhalt) im Land, welches weltweit Kulturnation genannt wird…

Rückblick (II): "Ja ich wollte das damals mit den aufziehenden Reformen wie dann mit Hartz und anderer Schandtaten nicht mehr mittragen", erzählt der Plauener über seinen Abschied aus der SPD 2004. In die war er 1990 eingetreten, nachdem der junge Mann mit der Plattform "Neues Forum" im Joint Venture mit der Westpartei "Die Grünen" bei den ersten Wahlen nach der Wende 1990 grad mal fünf Prozente holte. Dazu später. "Der Gerhard Schröder und seine smarte Mannschaft haben meiner Meinung nach seiner Wahl viele Menschen im Land enttäuscht. Ich bin nicht auf die Straßen gegangen für ein Land in Freiheit, in dem vor allem die Freiheit des Kapitals gilt." Was war das für ein wunderbarer Ansatz dagegen 1989, lächelt Jörg Schneider. Zunächst kam das mit der Meinungsfreiheit, das mit dem Hinwegfegen der gehassten Funktionärsglique, dieser frische Wind in den Gedanken und Herzen. Die friedliche Revolution schmeckte wunderbar. Dann kamen andere Losungen.

Einheit, Freiheit, Wohlstand für alle und neue Protagonisten an den Mikrofonen vor den Kameras. "Und ich merkte, der Kohl und seine Leute wollten den Laden übernehmen." Schon wenige Monate später im März 1990 wurde Klartext geredet: Keine Experimente, Marktwirtschaft, weg mit den Wendehälsen. "Im Wahlkampf ging die CDU und ihre Verbündeten knüppelhart zu Werke, die haben unsere Plakate zerstört, die haben uns madig gemacht, als seien unsere Reihen mit gewendeten Kadern bestückt. Falsch. Die Strategie aber ging auf. Wir, die ungelernten, ehrlichen, ja beinah noch Hobbypolitiker wurden abgelöst von Profis."Die Einheit kam und damit alle Gesetze und Regeln aus dem Westen. Soweit so gut, denkt Schneider, doch: "Man hat nach und nach die Menschen im vereinten Land ihrer Rechte beraubt. Was war das früher doch gut mit diesem gesellschaftlichen Interessenausgleich zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern.

Der Turbo wurde gezündet am Kapitalismus. Teilen, nee, das wollten die Arbeitgeber und ihre Kreise drumherum bis heute nicht mehr. "Das alles begleitete Schneider, währenddessen er vom Werkzeugmacher umschulte, sich in AB-Maßnahmen durchbiss und schließlich als Fachkraft in einer Vermessungsfirma bis heute tätig ist. Für den neuen, privaten Bundesbürger ist es ein Freude, Freizügigkeit zu erleben, er reist gern, wandert, fotografiert, er mag den Austausch mit den Menschen. "Ich habe viele kennen gelernt auch aus dem Westen und gute Erfahrungen machen können. Ja mitunter ist der Oberfranke sogar besser drauf als wir, die Vogtländer."

Oktober 2010: Jörg Schneider, ein still wirkender, bescheiden und sympathisch auftretender Mann, taut auf, wenn er in den politischen Diskurs eintritt. Er ist auch ein bisschen aufgewacht, gesteht er, denn der Vogtländer ist wieder aktiv - politisch. "Ich habe mit Mitstreitern eine neue Plattform, eine für Bürger, für eine demokratische Erneuerung der Gesellschaft gegründet. Es ist ein richtiger Verein mit regelmäßigen Treffen, mit Arbeitsgruppen, Aktionen, einer eigenen Internetseite." Es ist wieder Herbst. Es herrscht fast eine revolutionäre Stimmung. Kein Sozialabbau. Erneuerung des Solidarprinzips. Andere Stichworte flattern in der Diskussion umher. Aber es gibt ein Aber. "Na ja, es mangelt am Zusammenschluss, an der Bündelung. Viele wehren sich, stehen auf, agieren - aber mit der eigenen Suppenkocherei. Das muss verbunden werden, dann wäre man stark", philosophiert Jörg Schneider. Im Land müsse unbedingt wieder zum Grundgesetz zurückgekehrt werden, denn die wichtigen Entscheidungsträger im Land und die, die Großbesitzer sind, handelten eben nicht mehr danach. Beispiel? Eigentum verpflichtet, heißt es im Grundgesetz. Und wer da oben hält sich dran?, fragt Schneider.

Es wäre Zeit für ein neues Flugblatt? Was würde der einstige Schreiber von 1989 darauf setzen? "Das Gleiche", sagt Schneider und zitiert: "Überwindet eure Gleichgültigkeit und Lethargie - steht auf und schließt euch zusammen…"

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Autor*in
Frank Blenz

Frank Blenz arbeitet als freier Autor, Journalist und Fotograf, schreibend für Lokalzeitungen und Wochenblätter; ist Texter, Musiker, Veranstalter (Podiumsdiskussionen, Konzerte) beheimatet in Plauen und Region Vogtland.

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