Am 25. Juni 1991, vor 20 Jahren, erklärten Kroatien und Slowenien ihre Unabhängigkeit von Jugoslawien.
Halten Sie dieses Ereignis für den Auslöser der darauf folgenden kriegerischen Auseinandersetzungen in Jugoslawien?
Marie-Janine Calic:
Nein, die Ursachen liegen tiefer. Seit Titos Tod 1980 unterlag der Staat einem fortschreitenden Desintegrationsprozess. Dies hatte strukturelle Gründe, wie etwa das große
Wohlstandsgefälle, aus dem sich Interessengegensätze ergaben. Hinzu kam eine tief greifende politische System- und Legitimitätskrise. Vor diesem Hintergrund waren die politischen Führungen in den
Teilrepubliken nicht mehr bereit, ihre Konflikte durch Kompromisse beizulegen. 1990/91 waren die Institutionen im jugoslawischen Staat nicht mehr handlungsfähig. Der Vielvölkerstaat hatte sich
praktisch in seine föderalen Bestandteile aufgelöst.
Gelegentlich wird behauptet, mit der Anerkennung der Unabhängigkeitserklärungen Kroatiens und Sloweniens durch die damalige Bundesregierung habe sich der Konflikt dramatisch verschärft.
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In jedem Fall waren Zeitpunkt und Umstände der Anerkennung schlecht durchdacht. Die Internationalisierung des Konflikts zeigte anders als erwartet keineswegs abschreckende Wirkung auf die
Jugoslawische Volksarmee. Und regionale Weiterungen, etwa die Auswirkungen der Unabhängigkeit auf das multiethnische Bosnien-Herzegowina oder auf Kosovo wurden gar nicht reflektiert. Es gab also
kein Gesamtkonzept für den postjugoslawischen Raum. Zudem: Deutschland war weder willens noch selbst in der Lage, den neuen Staaten irgendwelche Sicherheitsgarantien zu geben.
Nach der Unabhängigkeitserklärung des Kosovos sind sieben unabhängige Staaten auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawiens entstanden. Ist der Zerfallsprozess damit beendet oder ist mit
weiteren Abspaltungen zu rechnen?
Der Prozess ist fürs Erste beendet - solange die internationale Gemeinschaft mit ihrer Präsenz garantiert, dass sich die Republika Srpska nicht von Bosnien-Herzegowina abspaltet. In
Mazedonien spielen nationalistische Albaner mit dem Gedanken an Sezession, jedoch ist diese momentan nicht akut. Der europäische Annäherungsprozess und die damit verbundene Konditionalität -
Respekt bestehender Grenzen, Wahrung von Minderheitenrechten und Pflege gutnachbarschaftlicher Beziehungen - tragen dazu bei, die Staatenkarte stabil zu halten.
Sehen Sie weitere Risiken für zukünftige militärische Konflikte in der Region, beispielsweise im Kosovo oder in Mazedonien?
Das Hauptrisiko sind nicht militärische Konflikte, sondern schwache Institutionen und mangelnde Rechtsstaatlichkeit, Kriminalität und Korruption sowie die allgemein niedrige
Wirtschaftskraft, die hohe Arbeitslosigkeit und soziale Frustrationen schafft. In beiden Ländern gibt es insofern ein beträchtliches Unruhepotential. Einen regelrechten Krieg muss Europa derzeit
dennoch nicht fürchten, auch keine bewaffneten Aufstände. Jedoch kann sich die Lage rasch ändern.
Welche Lehren kann man aus dem blutigen Zerfallsprozess Jugoslawiens ziehen?
Die wichtigste Lehre ist, dass Kriege und Massenverbrechen durch präventive Maßnahmen vor dem Ausbruch von Gewalt verhindert werden müssen. Die vorausschauende Bekämpfung struktureller
Konfliktursachen muss Vorrang vor dem reaktiven Krisenmanagement haben. Dazu gehören der Aufbau demokratischer Institutionen und Rechtsstaatlichkeit, die demokratische Kontrolle von
Sicherheitskräften sowie die Förderung des wirtschaftlichen Wohlstands. Denn ist die Gewalt erst einmal ausgebrochen, ist sie nur noch sehr schwer einzudämmen. Vor allem: mit militärischen
Interventionen kann man unter Umständen einen Krieg beenden. Den Frieden hat man dadurch aber noch lange nicht gewonnen.
Prof. Dr. Maria- Janine Calic ist Professorin für Ost- und Südosteuropäische Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität, München (z.Zt. Dekanin der Fakultät für Geschichts- und Kunstwissenschaften). Frau Calic ist die Autorin des Buches " Die Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert".