Um das Jahr 1974 geht es im Vorspann, um den Rücktritt des Bundeskanzlers Willy Brandt und dessen Ursachen. Die Politik der von Brandt geführten sozialliberalen Koalition und deren Erfolge in
der neuen Ostpolitik werden aufgezeigt. Das, was dieser vorausging, wird ebenso beschrieben wie das, was folgte. Das Jahr 1974 setzte eine wesentliche Zäsur in der Politik. Dieses Jahr ist es
auch, in dem die Handlung des vorliegenden Buches angesiedelt ist.
Fluchthilfe
Der 1953 geborene Autor Rüdiger von Fritsch hatte gerade die Schule abgeschlossen, als er von seinem thüringischen Cousin um Hilfe für sich und seine beiden Freunde gebeten wurde. Die
Geschichte dieser Flucht wird in Verbindung mit dem politischen Geschehen des Jahres 1974 nacherzählt. Eine Menge an Fakten zu deutscher und internationaler Politik ist dabei aus spezieller
Perspektive heraus zu erfahren.
Minutiös wird berichtet, wie die Flucht vorbereitet und durchgeführt wurde, welche technischen Leistungen dafür zu erbringen waren, welche Ängste die beteiligten jungen Leute auszustehen
hatten. Das ist ein historisch wichtiger und ein spannender Stoff noch dazu.
Berichtsform
Die gewählte Form der Darstellung allerdings spricht zwar über die fiebrige Anspannung in jener Zeit und belegt deren Hintergründe an Hand des Aufzeichnens der Konsequenzen, die solches
Handeln haben konnte. Mehrfach werden Zeitungsnotizen aus der DDR eingeblendet, in denen von Verhaftungen und Verurteilungen die Rede ist. Aber immer überwiegt der sachlich-berichtende Ton. Wie
was zu bewerkstelligen ist, das wird bis ins Kleinste debattiert. Das Ziel selbst steht unbezweifelbar. Alle in dieser Ost-West-Familie stehen zusammen, haben sich offenbar durch die Zeit der
staatlichen Zwangstrennung in keiner Weise voneinander entfremdet.
Selbstverständlich?
Man hätte sich vielleicht noch ein wenig mehr an Informationen darüber gewünscht, wie dieser Zusammenhalt bewahrt wurde. Die suggerierte Selbstverständlichkeit desselben nimmt dem Anliegen
Schärfe und Spannung. So erscheint alles als eine folgerichtige Handlungskette, die sich hinter Staat und Familie aufbaut.
Dieses Betonen von Selbstverständlichkeit und Folgerichtigkeit in der literarischen Darstellung aber kann leicht langweilen, selbst bei eigentlich äußerst spannungsvollen
Ereignisschilderungen.
Historisch
Und die sind hier gegeben. Tatsächlich stehen hochinteressante Ereignisse aus dem individuellen Leben des Verfassers zur Debatte. Das sind Geschehnisse, die Nahtstellen deutscher Geschichte
nicht nur äußerlich tangieren, sondern Geschichte mit vorangetrieben haben. Aus dem Gewordensein der Familie hätte sich vielleicht noch manches mehr erschließen lassen. Was allerdings besticht,
ist der gut verständlich gebündelte Abriss zu deutscher Gegenwartsgeschichte am Beispiel junger Leute aus beiden Teilen Deutschlands, die einander bis heute freund- und verwandtschaftlich
verbunden sind.
Der Autor
Von Fritsch ist Historiker und Germanist. Er hat als Diplomat und von 1999 bis 2004 als Leiter des Planungsstabes des Bundespräsidenten gearbeitet, von 2004 bis 2007 als Vizepräsident des
BND. Gegenwärtig amtiert er als Leiter der Abteilung für "Wirtschaft und nachhaltige Entwicklung" im Auswärtigen Amt.
Von so einem Mann erwartet man Sachkunde und sorgfältiges Recherchieren beim Bearbeiten eines wichtigen Themas deutscher Zeitgeschichte. Diese Erwartung wird durch das vorliegende Buch
eingelöst. Kein Wunder, da es sich bei dieser Recherche um einen Gang in die eigene individuelle Vergangenheit handelt und der Autor beschreibt, wie er selbst im Jahre 1974 gravierenden Einfluss
auf das Schicksal seiner Familie in Ost und West nahm.
Dorle Gelbhaar
Rüdiger von Fritsch "Die Sache mit Tom: Eine Flucht in Deutschland", wjs verlag, Wolf Jobst Diedler jr., Berlin 2009, 238 Seiten, 19,95 Euro, ISBN 978-3- 937989-55-6
ist freie Autorin, Vorstandsmitglied des Verbands deutscher Schriftsteller im ver.di-Landesverband Berlin sowie stellvertretende Vorsitzende des Kulturwerks Berliner Schriftsteller e. V.