„Die SPD sollte keine Angst vor Karl Marx haben“
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Welche Bedeutung hat Karl Marx historisch für die SPD?
Ohne Marx gäbe es die SPD gar nicht. Für mich wird das im Plakat zum Eisenacher Parteitag 1869 bildhaft deutlich. Dort stehen im Zentrum zwei Männer, die sich nicht sonderlich leiden konnten: Karl Marx und Ferdinand Lassalle. Weist das nicht schon darauf hin, dass die Sozialdemokraten Marx trotz aller Differenzen als geistigen Mitbegründer ihrer Partei gesehen haben? Gleichzeitig wurde mit der Gründung des Vorläufers der SPD das wahr, was sich Marx und Engels erträumt hatten: eine Arbeiterbewegung.
In Ihrem Buch schreiben Sie: „Marx hat die Sozialdemokratie gehasst und bewundert.“ Woran lag das?
Marx wollte nicht nur der Vordenker, sondern auch der Anführer der Arbeiterbewegung sein. Dafür war er aber viel zu weit weg von denen, die er Proletarier nannte – sowohl körperlich in England als auch geistig mit seinen Theorien. So war Marx mit seinen Schriften letztlich nicht viel mehr als ein Stichwortgeber für die sozialdemokratischen Anführer wie Lassalle, Wilhelm Liebknecht und August Bebel, die Marx wegen ihrer Eloquenz, ihres publizistischen Erfolgs und ihres Einflusses beneidete.
Zu den Gründervätern der SPD hatte Karl Marx engen Kontakt. Wie groß war sein Einfluss auf sie?
Wenn man Marx glaubt, war sein Einfluss auf Lassalle und Liebknecht immens. Er betrachtete beide eher als Lehrlinge, denen er alles beigebracht habe. Die Wirklichkeit sieht aber anders aus. Marx’ Schriften haben sicher Einfluss auf ihre Vorstellungen gehabt, aber die beiden haben sich auch eigene Gedanken gemacht. Gleichzeitig gab es durchaus Differenzen zwischen dem, was Marx wollte und dem, was die Ursozialdemokraten beabsichtigten. Die Ur-SPD war aus guten Gründen eher realpolitisch und reformorientiert unterwegs. Marx dagegen vertrat die reine Lehre, was ihm aus der Entfernung in London natürlich auch deutlich leichter fiel als den Sozialdemokraten, die zum Teil für ihre Überzeugungen im Gefängnis saßen.
Nachdem sich ADAV und SDAP 1875 in Gotha zum Vorgänger der SPD zusammengeschlossen hatten, übte Marx scharfe „Kritik des Gothaer Programms“. Was störte ihn?
Kurz gesagt: die Gleichmacherei, die im Programm betrieben wurde. Etwas wie gleiche Bezahlung, wie sie das eherne Lohngesetz im Gothaer Programm fordert, hatte Marx nicht im Sinn. Hier kann man ihn eher im Sinne einer Leistungsgesellschaft verstehen. Für seine Theorie war ja nicht die Arbeit entscheidend, sondern die Arbeitskraft. Sie ist es, die der Unternehmer kauft – und ausbeutet. Dazu kam, dass das Gothaer Programm einen sehr nationalen Fokus hat. Marx dagegen dachte international und hätte sich die Rückschritte ins Nationale, die noch folgen sollten, nie vorstellen können.
Wie reagierte die Parteiführungauf Marx’ Kritik?
Gar nicht. Marx’ Kritik wurde von einigen wenigen zur Kenntnis genommen und verschwand dann in der Schublade. Das zeigt, dass Marx und Engels zu diesem Zeitpunkt von der Führung der neuen Partei kaum mehr ernst genommen wurden. Marx drohte zwar, die Kritik zu veröffentlichen, tat es aber nie. Sie erschien erst nach seinem Tod auf Betreiben Engels’. Die Mitglieder
der sozialdemokratischen Partei werden über seine harten Worte nicht schlecht gestaunt haben. Für mich zeigen die Kritik am Gothaer Programm und der Umgang der Parteiführung damit auch den fundamentalen Unterschied zwischen dem Selbst- und dem Fremdbild, das Marx hatte. Er meinte ja bis zum Schluss, er und Engels hätten Einfluss auf diese junge Partei, obwohl er in seinem tiefsten Innern wahrscheinlich wusste, dass er kaum noch etwas bewirken konnte.
Im Erfurter Programm von 1891 fanden sich dennoch viele seiner Forderungen wieder. Mit dem Godesberger Programm 1959 distanzierte sich die SPD dagegen endgültig von Marx. Hat die Partei inzwischen ihren Frieden mit ihm gemacht?
Bisher nicht. Die SPD würde aber gut daran tun, das endlich hinzukriegen. Im Godesberg Programm hat sie sich ja von einem Marxismus losgesagt, den Marx selbst nie gewollt hat. Seine zentrale Botschaft ist, dass die Menschen mit dem Kapitalismus etwas geschaffen haben, das sie nicht mehr beherrschen, sondern das sie beherrscht. Marx hat sich auch nicht gegen Reichtum, sondern gegen Armut stark gemacht. Und vieles, was in seinem Namen geschehen ist, wäre nicht in seinem Sinne gewesen. Die SPD sollte deshalb keine Angst vor Karl Marx haben. Und wenn sie es zeigen wollte, könnte sie ihr neues Partei-Programm mit dem Marx-Zitat überschreiben: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.“ Eigentlich die zentrale Idee des Sozialstaates, für den die SPD doch am Ende noch eher stehen sollte als etwa für Kulturrelativismus oder falsch verstandene Willkommenskultur.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.