Geschichte

Die Grande Dame der SPD-Geschichtsschreibung wird 85

Am 27. Februar wird Helga Grebing 85. Sie ist eine beeindruckende Zeitzeugin, vor allem der Nachkriegszeit – und sie ist unsere führende lebende Historikerin, die die großen Linien der sozialen Auseinandersetzung im 20. Jahrhundert wertorientiert und mit außerordentlichem Detailwissen aufzeigt.
von Klaus-Jürgen Scherer · 26. Februar 2015
Helga Grebing: Die Historikerin urteilt stets kritisch und differenziert.
Helga Grebing: Die Historikerin urteilt stets kritisch und differenziert.

Ihre Beiträge sind eine Bereicherung jeder Debatte von der Historischen Kommission bis zur Hochschulinitiative Demokratischer Sozialismus e.V.. Gerade in den letzten Jahren war sie mit ihrer liebenswerten Offenheit, ihren immer neuen Projekten und Büchern, mit ihrer Herzenswärme und ihrem nicht nachlassenden Engagement im Umfeld des Berliner Willy-Brandt-Hauses äußerst präsent. Das Neue Deutschland nannte sie, in respektvoller Gegnerbeobachtung, die „Grande Dame der sozialdemokratischen Geschichtsschreibung“. Da trifft das Blatt einmal den Kern.

Helga Grebing, zunächst in der politischen Bildung tätig, schärfte mit ihrer 1966 erstmals erschienenen, wissenschaftlichen Darstellung der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (auch ich las die dtv-Taschenbuchausgabe Anfang der 1970er Jahre im Gymnasialunterricht), bis hin zur neuen Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Von der Revolution 1848 bis ins 21. Jahrhundert (vorwärtsbuch 2007), für viele den Blick für die demokratisch-sozialistischen Bewegung.

Wissen, woher wir kommen

Das war in Abgrenzung zur kommunistischen Geschichtsschreibung mit ihren Halbwahrheiten und Verdrehungen (besonders: 1914, 1918/19, 1933, nach 1945/DDR) für den Kampf der Ideologien wichtig. Das ist heute umso wichtiger, wo in tiefen und schnellen gesellschaftlichen Umbrüchen Geschichtsvergessenheit droht. Ohne Kenntnisse der Geschichte der Arbeiterbewegung, des Woher-Wir-Kommen, kann niemand einen inneren Kompass der linken Mitte ausbilden - und nur der schützt davor, für Macht und Karriere in Beliebigkeit abzugleiten.

Wobei Helga in ihren Forschungen stets kritisch urteilt und differenziert abwägt - eigentlich für die Wissenschaft selbstverständlich, jedoch unterscheidet sie das von denen, die immer nur die jeweilige Position des Parteivorstandes nachbeten: Dabei war auch in der Geschichte der Arbeiterbewegung wenig alternativlos, gab es immer heftige Debatten, Strömungen und Richtungsentscheidungen.

Großer Respekt für ihr Lebenswerk

Sigmar Gabriel schrieb: „Deinem Lebenswerk - von Deinem Engagement in der politischen Bildung und in der universitären Lehre, über Deine Forschungsarbeiten und wissenschaftlichen Projekte bis hin zu Deinen geschichtspolitischen Interventionen, überhaupt all Deinen zahlreichen Büchern - begegnen wir mit großem Respekt!“

Dies gilt natürlich auch der Autorin des mit dem III. Reich abrechnenden Standardwerkes Nationalsozialismus. Ursprung und Wesen (Erstauflage 1959), der Professorin für Politische Wissenschaften an der Universität Frankfurt/M., der Professorin für Geschichte an der Universität Göttingen und erst Recht der Professorin für vergleichende Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung an der Ruhr-Universität Bochum mit der Leitung des „Instituts zur Erforschung der Internationalen Arbeiterbewegung“.

Statt Ruhestand folgten nach der Emeritierung weitere wichtige Publikationen: Ich nenne aus den letzten Jahren nur die Mitarbeit an der umfangreichen Berliner Ausgabe von Willy Brandt, an die wohl einfühlsamste Brandt-Biographie Der andere Deutsche, an die Doppelbiographie Die Worringers und ihre eigenen autobiographischen Erinnerungen Freiheit, die ich meinte. Erinnerungen an Berlin, an die Willy-Brandt-Comic Biographie (gemeinsam mit Ansgar Lorenz), zuletzt an Fritz Sternberg´s Erinnerungen an Bertold Brecht. Auf die mannigfachen weiteren Essays und Texte zur Politikgeschichte, Sozial-, Ideen- und Kulturgeschichte sei hier nur hingewiesen.

Jenseits von Zeitgeist und Ideologie

Ein Demokratischer Sozialismus, der die freiheitliche Tradition der Sozialdemokratie verbindet damit, die Gerechtigkeits- und Gleichheitswerte (auch der Gleichberechtigung von Mann und Frau!) nicht der Anpassung an Zeitgeist und liberale Ideologien zu opfern, der den Kapitalismus nicht für das Ende der Geschichte hält – diese Grundorientierung wurde zur wissenschaftlichen und politischen Lebensaufgabe.

Im Willy-Brandt-Haus wird ihr zu Ehren ein Colloquium stattfinden, bei dem wichtige Denker aus dem Umfeld der SPD, von Bernd Faulenbach, über Karsten Rudolph, Christian Krell, Horst Heimann, Johano Strasser bis hin zu Thomas Meyer, darüber debattieren werden, was von der Arbeiterbewegung im 21. Jahrhundert bleibt. Welche Lehren sind aus der Geschichte aus Sicht des Demokratischen Sozialismus zu ziehen? Eine solche Veranstaltung hatte sich Helga Grebing gewünscht: Eine nach vorne gerichtete Debatte, auch mit Vertretern der Neuen Gesellschaft/Frankfurter Hefte, der Berliner Republik und der perspektiven ds, zur Selbstverständigung und gegen das Theoriedefizit der SPD. Eben kein besinnliches Kaffeekränzchen. Denn so alt ist Helga noch längst nicht.

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Autor*in
Klaus-Jürgen Scherer

ist Redakteur der Neuen Gesellschaft/Frankfurter Hefte.

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