Geschichte

„Die Aufklärungsarbeit niemals aussetzen“

von Birgit Güll · 27. Januar 2012

Er war gezwungen für Hitler-Deutschland in den Krieg zu ziehen, seine Frau hat Auschwitz überlebt: Der Publizist Klaus Harpprecht spricht zum „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ über den Antisemitismus im heutigen Deutschland und über das Friedensprojekt Europa.

vorwärts.de: Der 27. Januar ist in Deutschland seit 1996, international seit 2005, der „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“. Das Datum erinnert an die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. Was bedeutet Ihnen dieser Gedenktag?

Klaus Harpprecht: Meine Frau Renate war in Auschwitz. Sie ist allerdings schon vor dem Tag der Befreiung, dem 27. Januar, mit einem Transport nach Westen gekommen. In diesem Transport war das sogenannte Frauenorchester von Auschwitz. Die Schwester meiner Frau, Anita Lasker-Wallfisch, war die Cellistin dieses Orchesters. Dank der Ausnahmestellung meiner Schwägerin konnte auch meine Frau mit überleben. Allerdings kam sie dann in die Hölle von Bergen-Belsen – kein Vernichtungslager, aber Zehntausende starben dort an Seuchen, Hunger, Kälte.

Ihre Schwägerin, Anita Lasker-Wallfisch, hat einmal geschrieben: „Ich würde einiges darum geben, wenn ich wenigstens eine blasse Vorstellung davon vermitteln könnte, wie es sich anfühlt, befreit zu werden.“ Konnte Ihre Frau Ihnen eine Ahnung davon vermitteln, wie sich das anfühlt? 

Ich glaube schon. Wir sprechen nicht zu oft über diese Zeit, nur wenn sie reden will. Das haben wir immer so gehalten. Aber es ist deutlich geworden was diese Befreiung, die sie im halb verhungerten, halb verdursteten Zustand erlebt hat, bedeutete. Das kann wohl jeder, der sich eine menschliche Empfindung bewahrt hat, nachempfinden. Es war eine Rückkehr ins Leben.  

Ihre Frau Renate Lasker-Harpprecht hat einmal gesagt, für sie sei es anfangs eine Katastrophe gewesen, sich ausgerechnet in einen Deutschen zu verlieben. Wie sind Sie mit der Schuld umgegangen?  

Die Liebe fällt hin, wo sie hinfällt, hat sie mit einem Gran Ironie gesagt. Man kann eine Lebensgemeinschaft nicht auf ein Schuldgefühl gründen. Man gründet sie auf Liebe und auf Solidarität. Außerdem hatte ich das Glück, dass ich aus einer Nicht-Nazi-Familie stamme. Eine Familie die ihrerseits im „Dritten Reich“, im Widerstand, Opfer gebracht hat von denen ich wusste. Deswegen habe ich die Befreiung mit anderen Augen erlebt. Es war wirklich eine Befreiung für mich, als ich in amerikanische Gefangenschaft kam. So schwer die Zeiten waren, es war eine Erlösung.  

Ihrer Frau zuliebe leben Sie in Frankreich, weil sie als Überlebende nicht in Deutschland leben möchte.   

Wir leben in Frankreich, weil wir das Land lieben. Meine Frau wäre auch bereit in Deutschland zu leben. Aber wir führen hier eine europäische Existenz. Wir haben beide die doppelte Staatsbürgerschaft und versuchen beide dem sich aufbauenden Europa zu dienen.  

Sie haben die letzte Phase des Zweiten Weltkriegs miterlebt, als 16-Jähriger wurden Sie gezwungen als Soldat für Nazi-Deutschland zu kämpfen. Als Journalist im Nachkriegsdeutschland waren sie dem Gedanken „Das darf nie wieder passieren“ verpflichtet. Haben Sie das Gefühl, dass die deutsche Publizistik dem heute noch verpflichtet ist?  

Die Erinnerung wird notwendig blasser. Wie groß die Gefahren sind, hat man daran gesehen, dass eine neonazistische Bande länger als ein Jahrzehnt ihre Mordserie in Deutschland verüben konnte, ohne von der Polizei aufgehalten zu werden. Es gibt die tägliche Gewalt gegen Menschen mit einem sogenannten Migrationshintergrund. Gerade wurde ein Antisemitismus-Bericht für Deutschland veröffentlicht. Obwohl dieser Wahn geringer wird, ist immer noch ein Fünftel der deutschen Bevölkerung von antisemitischen Vorurteilen geprägt. Das wird offensichtlich von Generation zu Generation mitgeschleppt. Viele junge Deutsche sind nie in ihrem Leben einem Juden begegnet. Die Aufklärungsarbeit darf niemals aussetzen. Ich denke, dass die deutsche Gesellschaft und auch die deutschen Schulen versuchen diesem Anspruch gerecht zu werden. In Deutschland – wir haben auch allen Grund dazu – ist man wacher als in manchen anderen europäischen Staaten. In Ungarn macht sich gerade wieder ein fataler Rassismus breit.  

Reicht das aus – wacher als andere zu sein?   

Es kann mehr sein. Doch ich bin immer wieder beeindruckt, wenn meine Schwägerin, Anita Lasker-Wallfisch, die als Zeitzeugin sehr viel in deutschen Schulen unterwegs ist, von dem großen Interesse der jungen Leute erzählt. Sie glaubt, dass sich in sehr vielen deutschen Schulen ein Geist der Wachsamkeit regt, der fast beispielhaft ist. Man wünschte sich den manchmal auch in Frankreich.   

Ist die Situation in Frankreich so anders?   

Ich glaube, die Aufklärungsarbeit in den Schulen ist längst nicht so systematisch, wie sie es in Deutschland ist. Auch das freiwillige Engagement der Verständigung so vieler, der Versöhnung zu dienen, ist nicht im gleichen Maße entwickelt wie in Deutschland. Nun hat Frankreich auch eine andere Geschichte. Die ist zwar durch die Schatten des Vichy-Regimes, mit seinen Judengesetzen und den Hilfsdiensten für die deutsche Besatzung, schwer belastet. Auf der anderen Seite muss gesagt werden, dass Frankreich mehr als zwei Drittel seiner Juden gerettet hat. Das ist eine Bilanz, die leider kein anderes besetztes westeuropäisches Land vorweisen kann, von dem Sonderfall Dänemark abgesehen.  

Sie haben die neonazistische Zwickauer Zelle schon angesprochen, auch die Ergebnisse des Antisemitismus-Berichts. Machen Sie sich Sorgen um die Demokratie in Deutschland?   

Die Demokratie ist täglich auf dem Prüfstand. Ich glaube, wir sollten uns noch zu größerer Aufmerksamkeit und Wachsamkeit erziehen. In Ungarn erleben wir gerade, wie sich anti-demokratische und rassistische Stimmungen in eine Gesellschaft einschleichen können. Die Europäische Union war viel zu lange zurückhaltend. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán hat sich von Nicolas Sarkozy und Angela Merkel geschützt gefühlt. Jetzt ist man in Brüssel wach geworden. Die Maßnahmen scheinen zu greifen, zumal die wirtschaftliche Lage in Ungarn sehr schlecht ist. Die ungarische Regierung begreift – aus Opportunismus oder aus Einsicht – dass sie die Verfassungsänderungen, die zum Teil die demokratischen Grundwerte außer Kraft setzen, zurücknehmen muss. Natürlich ist damit die nationalistische Prägung der Regierung nicht beseitigt. Hier braucht es den ständigen Druck aus Brüssel. Ich denke außerdem, wir müssen den Lissabonner Vertrag ergänzen: Als letzte, wirksamste Waffe der Gemeinschaft muss es die Möglichkeit eines Ausschlusses aus der Union geben. Der dürfte nur mit einer absoluten Mehrheit im Parlament und einer Zweidrittelmehrheit im Ministerrat beschlossen werden. Auch durch die Öffnung zu den Balkanstaaten, mit ihren unausgegorenen Nationalismen, braucht es ein solches letztes Werkzeug um Europa zu schützen.  

Sie vertrauen zur Sicherung der Demokratie also letztlich auf Europa? 

Europa hat sich als Friedensgarantie erwiesen. Es hat die Aufgabe die Demokratie zu sichern, und es hat sich auch schon bewährt. Die Geschichte der Europäischen Union ist eine Geschichte der Niederlage, des Stolperns und sich Voranschleppens. Und doch ist diese merkwürdige neue Gemeinschaft zwischen Staatenbund und Bundesstaat gewachsen und sie nimmt feste Formen an. Ich glaube nicht, dass diese Errungenschaften so rasch bedroht werden können. Wir haben jedenfalls allen Grund Europa als den großen Glücksfall der Nachkriegsentwicklung zu betrachten – und das unsere zu tun, um dieses Glück zu erhalten und zu mehren.

Klaus Harpprecht, geboren 1927, begann seine journalistische Laufbahn 1947 beim Wochenblatt „Christ und Welt“. Wenig später begann er seine Tätigkeit für Funk und Fernsehen bei Rias, SFB, WDR und ZDF. Er leitete den Fischer Verlag, war Herausgeber von Geo, schreibt für die Zeit und Cicero. 1966 und 2011 wurde er mit dem Theodor-Wolff-Preis geehrt. 1972 bis 1974 war er Redenschreiber und Berater von Willy Brandt. Klaus Harpprecht ist Herausgeber der „Neuen Gesellschaft. Frankfurter Hefte“.

Autor*in
Birgit Güll

ist Redakteurin, die für den „vorwärts“ über Kultur berichtet.

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