Herr Professor Winkler, wie steht die SPD nach 140 Jahren heute da? Als starke Regierungspartei oder als Partei in der Krise?
Die SPD muss heute, wie schon oft in ihrer Geschichte, klare Prioritäten setzen. Wenn sie weiterhin die Geschicke Deutschlands gestalten will, muss sie ihre Reformfähigkeit beweisen. Sie muss
alte Gewissheiten überprüfen und die Frage beantworten: Was heißt heute soziale Gerechtigkeit? Ohne diese schmerzhafte Überprüfung würde die SPD zu einer konservativen Partei. Und verlöre damit die
Chance, Regierungspartei zu bleiben. Insofern steht die SPD 140 Jahre nach ihrer Gründung vor einer neuen Bewährungsprobe.
Kann denn ausgerechnet die SPD, die ja sozusagen den Sozialstaat mit erfunden hat, Kürzungen sozialer Leistungen durchsetzen, ohne ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren?
Wenn sie die Substanz des Sozialstaats retten will, muss sie das. Denn wenn der Sozialstaat nicht mehr finanzierbar ist, kann er auch nicht gerettet werden. Die SPD muss definieren: Was ist
heute gerecht? Sie muss sich fragen: Ist es gerecht, wenn heute Nichtarbeit unter Umständen lukrativer ist als Arbeit? Ist es gerecht, dass die Kosten für die höhere Bildung, die Akademikern zu
überdurchschnittlichen Einkommen verhilft, nur die Allgemeinheit trägt? Oder wäre es nicht gerechter, wenn Akademiker nachträglich einen Solidaritätsbeitrag leisten? So wie es die Labour Party in
Australien eingeführt hat.
Hilft der SPD ein Blick in ihre Geschichte, um die Frage zu beantworten: Was ist heute gerecht?
Die Parteigeschichte zeigt, dass die SPD immer dann mehr Gerechtigkeit geschaffen hat, wenn sie denen helfen konnte, die gesellschaftlich "unten" standen. Das waren im 19. Jahrhundert die
Arbeiter. Das sind sie heute aber gewiss nicht mehr. Heute ist "unten", wer Arbeit sucht, aber keine erhält. Deswegen muss die SPD - zum Beispiel - bei Lohnabschlüssen fragen: Schaffen sie
Arbeitsplätze oder kosten sie welche? Wie sozial sind Lohnabschlüsse im öffentlichen Dienst, die dazu führen, dass Arbeitsplätze abgebaut und soziale Leistungen der Kommunen reduziert werden
müssen?
Die Linken in der SPD wollen den Sozialstaat verteidigen und verweisen dabei auf die sozialstaatliche Tradition der Partei. Zu Recht?
In der Geschichte hat die Verteidigung des Status quo oft auch Fehlentwicklungen konserviert. Wer die wesentlichen Errungenschaften des modernen Sozialstaats verteidigen will, muss den
Sozialstaat weiterentwickeln. Er darf nicht an Strukturen festhalten, die nicht mehr funktionieren.
Wolfgang Thierse warnt die SPD: Wenn sie an der Modernisierung des Sozialstaates scheitert, drohen ihr 20 Jahre Opposition. Ist diese Warnung berechtigt?
Ich halte sie für völlig realistisch. Und ich freue mich, dass Wolfgang Thierse diese zutreffende Einsicht so markant zu Protokoll gegeben hat. Die SPD hat zur Adenauerzeit jahrelang die
soziale Marktwirtschaft und die Westbindung abgelehnt, sie hat Wirklichkeit und Wunschvorstellung nicht klar genug unterschieden. Dafür musste sie bezahlen: mit 17 Jahren Opposition. Diese
historische Lektion sollte die SPD nicht vergessen.
Wie sieht ihre Zukunftsprognose aus? Wird die SPD auch die nächsten Jahrzehnte eine bestim-mende Kraft in Deutschland sein?
Darauf kann ich nur mit einem Wenn-Dann-Satz antworten. Wenn die SPD den Mut zu einer schmerzhaften Überprüfung lieb gewordener Vorstellungen aufbringt und sich, ähnlich wie die schwedischen
Sozialdemokraten, an die Spitze der Bewegung zur Erneuerung des Sozialstaates stellt, dann - aber auch nur dann - hat sie eine gute Chance, von den Wählern auch künftig mit der
Regierungsverantwortung betraut zu werden.
Die SPD ist reich an historischen Parteitagen. Am 1. Juni entscheidet ein Sonderparteitag in Berlin über die Agenda 2010. Wird er ein Schicksalsparteitag?
Das wird er ohne Frage, denn von seinem Ausgang hängt nicht nur ab, ob sich das Kabinett Schröder an der Regierungsmacht behauptet. Von diesem Parteitag hängt auch die weitere Zukunft der
deutschen Sozialdemokratie in den kommenden Jahren und Jahrzehnten ab. Der Ruf nach einem neuen Godesberg ist voll gerechtfertigt. Godesberg war ein Befreiungsschlag. Einen solchen braucht die SPD
auch heute wieder.
Interview Lars Haferkamp
Quelle: vorwärts 5/2003
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